Wir alle sind trainiert im schnellen Anschauen von Bildern, weil wir anders mit der Bilderflut um uns herum nicht fertig werden können. Wenn wir dagegen ein Bild vor unseren Augen sozusagen anhalten und es über die vorab zugebilligte Zeit betrachten, kommt das zustande, was wir den gedehnten Blick nennen können.
Wilhelm Genazino

Der gedehnte Blick ist eine Haltung, und nicht auf das Sehen beschränkt. Er hat auch zu tun mit dem Lauschen oder dem Spüren. Es braucht dafür Langsamkeit. Sich Zeit lassen.
Wir sind Wesen, keine Geschosse – der Philosoph Paul Virilio spricht im Zusammenhang mit der zunehmenden Beschleunigung aller Vorgänge von der „Dromokratie“, einer Art Diktatur der Geschwindigkeit.
Wir sind meistens außer uns. Um wieder zu uns zu kommen, hilft der gedehnte Blick (das Lauschen, das Spüren).
Radikale Poesie schließt diese gedehnte Wahrnehmung, das Verweilen bei den Dingen (Düften, Bildern, Geräuschen) mit ein. Wer nicht ständig etwas mit den Dingen macht, sondern den Erscheinungen Raum gibt, betreibt Poesie im eigentlichen Sinn: es kann etwas entstehen. Es formt sich ein Eindruck, ein Gefühl oder was auch immer.
Der Philosoph und Therapeut Eugene Gendlin  geht davon aus, daß in unserem leiblichen Gefühl zu einer Situation oder einem Thema eine Wahrheit liegt. Der Zugang zu diesem Gefühl wird durch das Verweilen möglich, also einer Verlangsamung und Fokussierung der Wahrnehmung. Dann wird ein Gefühl, das zunächst irgendwie oder nebulös ist, der Erfahrung zugänglich. Gendlin spricht in diesem Zusammenhang vom murky edge, vom nebelhaften Rand der Wahrnehmung, in dem das Gefühl zunächst ein ungefähres ist.
Verlangsamung und gedehnte Wahrnehmung sind (so behaupte ich) gesund. Sie bringen uns zu uns selbst und entstressen uns. Wenn wir ihnen eine Chance geben.

Der Blog will hierzu einladen. Dies geschieht mit Beiträgen und Anmerkungen, die nach meiner ganz subjektiven Meinung zu diesem Thema passen.

Ich freue mich, wenn Sie sich inspirieren lassen.

Lothar Eder, im Februar 2017