Es war einmal, so beginnen alle Märchen. Auch diese Geschichte beginnt mit diesen Worten. Es war einmal, in einer fernen Zeit und in einer fernen Gegend, ein Königreich. Es war klein und abgelegen, hatte keine Bodenschätze und war wenig fruchtbar. Dennoch lebten die Bewohner gerne dort. Ein langer Krieg hatte das Land erschöpft, der König war gestorben und es gab keinen Thronfolger.

Das Volk verlangte, so geht die Geschichte weiter, was alle Völker von ihren Herrschern vergeblich verlangen – die Menschen wollten einfach in Frieden arbeiten und sich an ihrem Leben freuen.
Als das Volk des kleinen Königreichs erfuhr, dass der König gestorben war, versammelte es sich auf dem einzigen Platz im Reich und forderte vom Ältestenrat, einen Thronfolger zu bestimmen. Die Menschen forderten, dass es nie wieder Krieg geben sollte und deshalb sollte jemand gefunden werden, der das Leben liebte.

 

Der Ältestenrat nahm sich lange Zeit, um sich zu beraten. Es sollte ein junger Mensch auf den Thron gelangen, damit eine Kontinuität in der Lenkung der Geschicke des Landes gewährleistet sei, kam man überein. Damit waren die Ältesten, allesamt Senioren, von der Wahl ausgeschlossen. Und es sollte eine Person von großer Aufrichtigkeit, Klugheit und Liebe zum Leben sein; so wollte man den Volkswillen in die Tat umsetzen.

Um diese Person ausfindig zu machen, bat man jede Stadt und jedes Dorf, unter den jungen Leuten den besten Anwärter auf die Krone in den Palast zu entsenden.
So geschah es. Unter den vielen jungen Menschen, die kurze Zeit später sich im großen Ratssaal einfanden, war auch die junge Schäferin Liu. Sie wollte eigentlich lieber bei bei ihren Schafen und in ihrem Dorf bleiben, aber die Dorfbewohner und ihre Eltern überredeten sie, weil sie sie als die würdigste Abgesandte ihres Dorfes erachteten.

So fand Liu sich mit vielen anderen jungen Menschen im großen Ratssaal ein. „Wie ihr wisst“, sagte der Alterspräsident, „suchen wir einen Nachfolger für den Königsthron. Ihr alle seid von Euren Städten und Dörfern als die Fähigsten abgesandt worden. Ihr werdet nun alle eine Aufgabe bekommen und sie ist für alle gleich. Jeder von euch bekommt ein Samenkorn und wird es in den Boden seines Geburtsortes einpflanzen. Im Frühling werden wir uns erneut hier versammeln und wer die schönste Blume mitbringt, wird den Thron besteigen“.

Liu wickelte ihr Samenkorn sorgfältig in ein Seidentuch und trug es vorsichtig zurück in ihr Heimatdorf. Dort pflanzte sie es in die beste Erde, die es an ihrem Ort gab und wandte dabei ein paar Ratschläge an, die sie von ihrer Großmutter verraten bekommen hatte. Jeden Tag ging sie zu ihrem Samenkorn im Topf, sprach mit ihm in sanften Worten und berührte zärtlich den Topf. Sie sorgte dafür, dass die Erde nicht zu trocken und nicht zu nass war, achtete darauf, dass der in der Erde schlummernde Samen genügend Licht bekam, aber auch nicht zuviel Sonne.

Als der Frühling kam und kein Keimling sich zeigte, wandte Liu das Geheimrezept für einen Dünger an, den die Großeltern benutzten, wenn das Getreide nicht so recht wachsen wollte.

Aber auch das half nichts. Der Topf blieb leer, außer ein paar Unkräutern wuchs nichts. Liu war nicht wirklich betrübt darüber. Sie hatte sich ehrlich bemüht, aber nun, da ihre Bemühungen vergeblich gewesen waren, konnte sie getrost in ihrem Dorf bleiben und das Leben leben, das ihr gefiel.

Die Dorfbewohner aber und auch ihre Eltern versuchten Liu davon zu überzeugen, dennoch zur vereinbarten Zeit im Palast zu erscheinen. „Du brauchst dich nicht zu schämen, Liu“, sagten sie, „du hast alles getan, was dir möglich war. Und wir haben nicht den Anspruch, besser zu sein als die anderen. Und du als unsere Abgesandte sollst den anderen jungen Menschen und dem neuen Herrscher die Ehre erweisen mit deiner Anwesenheit als Abgesandte unseres Dorfes“.

Als Liu im Palast eintraf, fand sie sich inmitten einer großen Schar junger Männer und Frauen; alle trugen Schalen und Töpfe mit prächtig blühenden Blumen mit sich. Liu schämte sich, denn sie war die einzige mit einem leeren Topf und am liebsten wäre sie aus dem Saal geflüchtet. Aber sie erinnerte sich an das, was die Dorfbewohner und ihre Eltern gesagt hatten und blieb.

Der Ältestenrat schritt durch die Reihen und betrachtete all die prachtvollen Blumen, einige bedachten sie mit Worten voller Lob. Liu senkte ihre Augen. Dann hörte sie den Alterspräsidenten ganz in ihrer Nähe sprechen: „Gesegnet sei dieses Mädchen, es ist unsere neue Königin.“

Liu öffnete ihre Augen, um zu sehen, wen sie erwählt hatten. Sie erschrak, denn der Alte stand direkt vor ihr und sah ihr in die Augen, dahinter der gesamte Rat. Alle knieten vor ihr, der neuen Königin, nieder.

„Aber“, stammelt Liu, „ihr habt doch gesagt, wer die schönste Blume bringt, soll den Thron besteigen. Und ich habe doch nur einen leeren Topf.“

Der Alterspräsident antwortete ihr und wandte sich an die Menge im Saal: „Genau so ist es. Die Samen, die wir verteilt haben, waren alle geröstet. Keiner hätte aufgehen und blühen können. Wir wollten sicher gehen, dass eine Person den Thron besteigt, für die Ehrlichkeit das höchste Gut ist. Und genau diese wundervolle Blume hat uns diese junge Frau in ihrem leeren Topf dargebracht. Gott segne die Königin“.

EPILOG
Dies ist die von mir leicht gekürzte und aufbereitete Version der Geschichte „Semillas tostadas“ (geröstete Samen), die Jorge Bucay in seinem Buch „Zähl auf mich“ erzählt. Wenn ich es recht zugeordnet habe, stammt sie ursprünglich von José María García Ríos.
Da ich nicht an Zufälle glaube, glaube ich auch nicht, dass diese Erzählung mir zufällig gerade jetzt über den Weg gelaufen ist. Denn gerade jetzt, in diesen Tagen, zeigen die Herrschenden, dass ihnen egal ist, was die Menschen wollen. Gleich nach der Wahl brechen sie die Versprechen, die sie vor der Wahl gegeben haben. Sie ergehen sich in Ränkespielen, um sich und ihre Gefolgschaft mit Posten auszustatten und den Willen der Mächtigen zu erfüllen, deren Gesichter man nicht im Fernsehen sieht. Sie haben vergessen, woher sie kommen und dass sie nicht Herrscher, sondern Diener des Volkes sind.
Sie betrügen und belügen uns. Sie beuten uns aus. Sie verkaufen uns den Raub unseres hart erarbeiteten Geldes und und die Zerstörung unserer Kutur als Bereicherung und Zukunftssicherung. Und ganz in Orwellscher Manier wollen sie uns in eine kriegerische Konfrontation hineintreiben und uns das als Frieden verkaufen.
Ich habe nicht die Macht, das zu verhindern.
Aber ich habe die geistige Kraft, das zu durchschauen.
Und ich habe den Mut, zu sagen: Nicht mit mir!
Und ich verstehe nur zu gut, dass Geschichten wie diese eine tiefe Sehnsucht in mir wachrufen. Die Sehnsucht nach Freiheit, Fürsorge für das Leben, Ehrlichkeit und vor allem: Frieden.
Ich bin mir sicher, dass ich nicht der einzige bin.

Die Fotografien stammen von (in der Reihenfolge): Couleur auf Pixabay, Engin Akyurt auf Pixabay, Manfred Richter auf Pixabay und Jacques GAIMARD auf Pixabay.

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