Am 22. Dezember ist Wintersonnwende. Der kürzeste Tag und die längste Nacht des Jahres. Für viele von uns ist das Dunkel und die Kälte in diesen Tagen eine echte Herausforderung. Und doch ist der dunkelste Tag des Jahres zugleich der Tag der Neugeburt des Lichtes.
Für unsere nordeuropäischen Vorfahren, die Kelten und die Germanen, waren die Welt und die Natur beseelt. Das Innere entsprach dem Äußeren und umgekehrt. Bewegungen in der Natur entsprachen Bewegungen in der Seele. Und die Bewegungen entstanden unter anderem aus den Gegensatzpaaren, welche die Welt bestimmen – Dunkel und Licht, oben und unten, männlich und weiblich usf. In der Auffassung unserer Ahnen war der dunkelste Tag zugleich derjenige der Tag, an dem das Licht neu entsteht.

Zeit ist in dieser Weltsicht eine Kreisbewegung, keine Linie. Wir bewegen uns im Jahreskreis und finden uns, verändert, an den Stellen wieder, an denen wir bereits waren. Wo es kein Fort-Schreiten gibt, sondern eine stete Wieder-Kehr, kann Inne-Halten entstehen. Das Bestehende ist gut genug, es muss, ebensowenig wie die Menschen selbst, ständig verbessert und „upgedatet“ werden. Dieser Wahn der späten Moderne macht die Menschen ver-rückt und ent-rückt sie dem Eigentlichen.
So lädt uns die Wintersonnwende ein, innezuhalten und uns zu besinnen. Wer bist du? Wer bist du wirklich? Kennst du dich? Spürst du dich? Weißt du, warum du auf der Welt bist und wozu?

An Wintersonnwend können wir anknüpfen an die Tradition unserer naturspirituellen Ahnen. Wir können ein Feuer entzünden und die Neugeburt des Lichtes tief in der Erde feiern. Damit entzünden wir ein Licht in uns und lassen die Hoffnung und Gewissheit entstehen, dass das Licht in und um uns uns wärmen und uns wachsen lassen wird.
Yule oder Yula, wie die Wintersonnwende auch genannt wird, ist das Rad des Lebens, das wir auch aus anderen Kulturen kennen. Es dreht sich von selbst. Wenn wir diese Station im Jahreskreis be-gehen, dann klinken wir uns ein in diese Bewegung und werden mitgetragen. Das ist die alte, die neolithische und auch die antike Anschauung der Welt, dass wir uns verbinden können mit den vorhandenen Kräften, dass wir uns ihnen anvertrauen können und getragen werden. Ganz anders ist das als die über-individualisierte Anschauung der späten Moderne, in welcher der einzelne Mensch zusammenbricht unter der Bürde der alleinigen Verantwortung für sein Leben. Und er hat doch nur eins, so lautet seine Überzeugung!

Zwei oder drei Tage nach Yul beginnen die Weihenächte oder Raunächte. Das sind die 12 heiligen Tage zwischen der Nacht, in der das Licht neu erscheint, der Christnacht, und dem 6. Januar, dem Tag der Erscheinung des Lichtes für die gesamte Welt.
Nicht umsonst liegen die Raunächte nicht im Sommer, bei hellem Licht, sondern in der dunkelsten Jahreszeit. Denn nur hier entschwindet uns fast die Welt der Erscheinungen, das Sichtbare, Greifbare, die angeblich wirkliche Welt. Wenn wir uns darauf einlassen – ein Wagnis in der heutigen materialistischen Zeit – so bekommen wir die Chance, hinter die Dinge zu treten. Das was hinter der Wirklichkeit wirkt, zu erahnen und zu erspüren.
Denken wir an das Zitat von Daniel Kehlmann – Es gibt Reiche unterhalb von Vernunft und Sprache. Eben darum geht es. Wenn es uns gelingt, hinter die Worte und unsere gewohnten Begriffe zu gelangen, wenn wir uns auf das Fühlen, die Intuition und unsere Träume einlassen, betreten wir die Sphäre der Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit.

So war es üblich in den alten europäischen Traditionen. Dafür gab es auch einen praktischen Anlass: die Kälte und das wenige Licht boten vielleicht wenig Möglichkeit, etwas zu tun. Und die Welt war noch nicht vom Menschen „entzaubert“ (Max Weber) – sie war noch voller Geheimnis. Und in einer Welt ohne Elektrizität, ohne ständigen Konsum und ohne all das billige Gelichter der medialen Welt war noch möglich, was heute aus dem Blick gerät: Innehalten, Demut und ein Gespür dafür, dass es eine Welt hinter der Welt gibt.
Und es gab verbindende Rituale in den menschlichen Gemeinschaften. Der Konsumismus, die Vereinzelung und die Medienwelt haben sie fast zerstört. Aber unsere Seelen dürsten danach. Wir brauchen die Verbindung in der Vertikalen (Himmel und Erde) ebenso wie jene in der Horizontalen (zu den anderen). Alle Kulturen zu allen Zeiten wußten das. Nur die unsere dünkt sich „fortgeschritten“.
Im Äußeren dürfen wir uns erlauben, zur Ruhe zu kommen. Nicht zu tun. Das ist etwas anderes als „nichts zu tun“. Nicht tun, das heißt, die äußere Aktivität ruhen zu lassen und empfänglich zu werden für das was tat-sächlich geschieht, im Äußeren und im Inneren. Ohne einzugreifen. Daraus erwächst ein neues Verstehen, ein Erkennen dessen, was ist. Wir können uns mit unserem Fühlen verbinden. Nicht mit dem, wonach das Ego ständig greifen will. Sondern den Bewegungen in uns. Wir können die Welt auf uns wirken lassen. In der Dunkelheit bekommen wir ein Gespür für das was hinter den Dingen sich bewegt und sich uns mitteilen will.

Einzutreten in den Raum jenseits der Worte und Begriffe, den eigenen Träumen und inneren Resonanzen Raum zu geben, ist eine innere Energiequelle. Wir spüren oder erahnen, dass es eine Kraft gibt, aus der das, was sich manifestiert, erwächst. Sie verbindet uns mit dem, was wir wirklich sind und mit dem was unser Weg ist. Und die Verbindung zu dieser Kraftquelle will immer wieder hergestellt werden. So wie ein Auto betankt werden will, es fährt nicht von selbst.
Werde der du bist, sagte C.G. Jung. Aber den, der ich bin – oder die, die ich bin – finde ich nur im Kontakt mit mir. Das läßt sich nicht aus dem Regal nehmen, in den Einkaufswagen und später aufs Kassenband legen. Das ist ein Prozess. Die 12 heiligen Tage und Nächte, in denen wir nach Weihnachten befinden, bieten dafür eine wunderbare Gelegenheit.
Text und Bilder: Lothar Eder (Bildauswahl aus den Serien Erscheinungen, Seestücke und Sternenstaub)