Das Kalenderblatt vom Januar 2024 konfrontiert uns mit einem Zitat der spirituellen Lehrerin Annette Kaiser. Hans Neidhardt, von dem auch wieder alle Kalenderklätter des gesamten Jahres stammen, hat es für uns grafisch aufbereitet.

Alles ist Heilig?

In der Welt der Antike und bereits in der Jungsteinzeit sind die Welt und die Natur beseelt. Die Menschen dieser Zeit waren Teil eines von Kräften und Dynamiken durchwobenen Kosmos. Dieses Gefühl des Einseins ist für uns heute ungewohnt, wir müssen es uns quasi erst wieder „erarbeiten“. Zu sehr sind wir in der Trennung gefangen, was sich z.B. in der Verwendung von Begriffen wie „Um-Welt“ zeigt.

Das antike Lebensgefühl war geprägt von einem „wie innen so außen“ und vice versa. Peter Sloterdijk beschreibt dieses Weltgefühl mit dem Satz, dass damals nicht Menschen ihre Gefühle, sondern Gefühle ihre Menschen hatten. Man war ein-gewoben und mit-genommen von den vorherrschenden Kräften. Und es war Aufgabe des Menschen, diese Kräfte in sich anzuerkennen und zu kultivieren.

Unseren mittel- und nordeuropäischen Vorfahren, den Kelten und Germanen, war die Natur heilig. Sie war beseelt und damit heilig. So gab es heilige Bäume, Quellen und Orte, an die man sich begab um „heil“ zu werden. Erst die Zwangschristianisierung der Germanen im 8. Jh. durch Karl den Großen brachte die Trennung in heilig und unheilig. Die Heiligtümer der Natur wurden systematisch zerstört. Das Heilige wohnte fortan (angeblich) in der Kirche und draußen, in der Natur, lebten die bösen, heimtückischen und schlechten Kräfte. Sie wurden repräsentiert z.B. durch die Hexen, heilkundige Frauen, die mit den Kräften der Natur in Verbindung standen.

Hier also entsteht erst die Unterscheidung heilig/unheilig.

Nicht ist Heilig?

Erst die sog. „Aufklärung“ und die mit ihr einhergehende Entzauberung der Welt (Max Weber) zerstört das Heilige. Natur, Welt und Mensch werden zum berechenbaren und beherrschbaren Objekt einer Wissenschaft, deren diesseitige Heilsversprechen an die Stelle von Religion und Kirche treten.

Mittlerweile wird uns mehr und mehr bewusst, dass diese Versprechen nicht einlösbar sind. Die zunehmende Zerstörung der Natur und die seelische Verelendung der Menschen in der ZUVIELisation machen dies deutlich.

Theodor Adorno und Max Horkheimer, beider Vertreter der Frankfurter Schule der deutschen Soziologie, haben dies in ihrem Werk “ Die Dialektik der Aufklärung“ hervorragend herausgearbeitet. Man könnte in Abwandlung des berühmten Spruches sagen, dass die Aufklärung ihre Kinder frisst. Sie führt nämlich nicht zum versprochenen Paradies auf Erden, sondern zu einer globalen Verelendung von Natur und Mensch.

In einem aktuellen Beitrag diskutiert der Sozialwissenschaftlicher Heiko Kleve dieses Phänomen und zitiert Adorno und Horkheimer wie folgt: „Seit je hat Aufklärung im umfassenden Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils“ (Horkheimer/Adorno, S. 7).

Diesem Unheil begegnen wir täglich: Zerstörung der Landschaft, des Waldes und der Böden. Zerstörung der Seelen, die an der Zunahme sog. „psychischer Störungen“ sichtbar wird. Seit einigen Jahren rangieren seelische Störungen in den Statistiken der Krankschreibungen ganz oben. All dies sind Symptome. Aber was ist die Krankheit? Und was ist die Kur?

Auswege

Mit C.G. Jung könnte man sagen, dass sich die europäische/westliche kollektive Seele seit 200 Jahren in einem Heilungsprozesse befindet. Viele Denkansätze und praktische Lehren wurden seither erdacht und entworfen. Sie alle eint die Überzeugung der Einheit von Mensch und Natur und damit ein Abrücken vom Materialismus, der sich aus der Aufklärung entwickelt hat.

Am Beginn finden wir die Romantik als Kunstrichtung, aber auch als Haltung zur Welt. Aus den Anthropologien des späten 18. Jahrhunderts und der Romantischen Medizin entwickelt sich Anfang des 19. Jahrhunderts die Psychosomatik, die im Gegensatz zur herrschenden Medizin die Beseeltheit des Leibes in Erinnerung bringt und Krankheiten als Ausdruck seelischer Bewegung und ungelebten Lebens ansieht.

Auch Rousseaus Zurück zur Natur ist ein wesentlicher Einflussfaktor, die spätere Reformbewegung und die Anthroposophie Steiners nehmen dies auf. Steiners Lehre wiederum knüpft an die Naturphilosophie Goethes an, der vielfach die Beseeltheit der Natur „besungen“ hat und in seinem Faust II die alte germanische Naturspiritualität aufgreift und uns nahebringt.

Auch die Brüder Grimm, die mehr als nur „Märchenonkel“ waren, haben sich mit dem naturreligiösen germanischen Erbe beschäftigt. Die alten Wälder der berühmten Sieben Berge aber, hinter denen sich mystische Welten befinden, werden gerade eben von der politischen Bewegung, welche sich angeblich der Bewahrung der Natur verschrieben hat, für die Errichtung von Windparks gerodet und zerstört. Welch eine Barbarei!

Im 20. Jahrhundert dann explodiert förmlich eine Vielfalt von Bewegungen, die uns die Einheit von Leib und Seele, die Abkehr von Naturentfremdung und reiner Zweckorientierung und die Wiederanbindung an die traditionelle Naturspiritualität wiederbringt.

Diese Vielfalt beinhaltet Körpertherapien, gesunde Lebens- und Ernährungsweisen, eine schier unüberblickbare Zahl von Meditationsformen, das Manifest der neuen Erde, neue Lebensformen in Gemeinschaft und Verbindung mit der Natur bis hin zur Wiederanknüpfung an die Jahreskreisfeste unserer keltischen und germanischen Ahnen.

Sie alle vereint vielleicht ein zentraler Gedanke, nämlich das Heilige in uns und in der Natur wiederzuentdecken.

le
Kalligraphie.: Hans Neidhardt
Quelle: https://heikokleve.wordpress.com/2024/01/03/dialektik-der-aufklarung-phanomenal-kausale-und-aktionale-perspektiven-eines-klassikers-der-sozialwissenschaft/

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..