Die altbekannte Frage, welche drei Bücher man auf eine einsame Insel mitnehmen würde, führt mich zu C.G. Jungs „Erinnerungen, Träume, Gedanken“. Es handelt sich bei dem Buch um eine Autobiographie Jungs, die in Gesprächen mit seiner Schülerin Aniela Jaffé entstanden ist.
C.G. Jung wird oft als Schüler Sigmund Freuds bezeichnet. Dies aber stimmt nur zum Teil. Jung war bereits auf dem Weg, eine eigene Psychologie zu formulieren, als er 1907 den 19 Jahre älteren Freud traf. Es war dies eine Beziehung, die von wechselseitiger Faszination ebenso wie von schweren Differenzen geprägt war. Jung fand in der Psychoanalyse Freuds vieles wieder, wonach er selbst gesucht hatte. Auf Betreiben Freuds wurde er sogar Präsident der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung. Freud hatte Jung als seinen Kronprinz auserkoren. Entsprechend groß war seine Enttäuschung, als die unterschiedlichen Auffassungen der beiden Männer in wesentlichen Fragen zu Tage traten. Es kam bei Freud sogar zu Symptombildungen (z.B. fiel er in eine schwere Ohnmacht), weil ihn der Bruch so schmerzte,
Was hat die beiden Männer entzweit? Freud hat sich in seiner Psychoanalyse der Entwicklung und Psychotherapie des individuellen Menschen und seiner Entwicklung gewidmet. Diese Entwicklung sah er vor allem als eine psychosexuelle. Jung hingegen hat sich schon sehr früh mit Zusammenhängen befaßt, die über den einzelnen Menschen hinausgehen. Er beschäftigte sich anfangs mit Spiritismus und übersinnlichen Phänomenen. Letztlich landete er bei Fragen, die zum einen eine Sphäre betreffen, die er das „kollektive Unbewußte“ nannte. In Träumen und Vorstellungen der Patienten tauchten Symbole und Bilder auf, wie sie in allen Kulturen zu allen Zeiten zu finden sind. Ein Beispiel ist der sogenannte Mutter-Archetyp, die Vorstellung und bildliche Darstellung der nährenden, sorgenden und gütigen Mutter. Sie findet sich in der Jesusmutter Maria ebenso wie z.B. in der Guan Yin, einer in der chinesischen Tradition weiblichen Buddhaform, im tibetischen Buddhismus Chenresig („Liebevolle Augen“) genannt.
Jung also ging weit über das Libidokonzept von Freud hinaus, indem er grundlegende und unbewußte seelische Strukturen annahm, die nichts mit Grundbedürfnissen im engeren Sinn und mit Sexualität zu tun haben. Dies führte ihn zu einer Perspektive, die man später „transpersonal“ nannte. Sie führt über den einzelnen Menschen hinaus zu einer kollektiven geistigen Schicht. Und sie führt in die spirituelle Dimension. So stammt von Jung der Satz „Die entscheidende Frage für den Menschen ist: bist du auf Unendliches bezogen oder nicht?“.
Der Bruch ereignete sich 1913. Freud warf Jung vor, der „Schlammflut des Okkulten“ Tür und Tor zu öffnen und damit sein Werk, die Psychoanalyse, zu zerstören. Beide, das kann man dem Briefwechsel, der im Buch teilweise veröffentlicht ist, entnehmen, hat dieser Bruch verwundet hinterlassen. Wir verdanken ihm letztlich die „Analytische Psychologie“, das Opus Magnum Jungs. Sie eröffnet wunderbare Perspektiven auf das menschliche Leben und die Seele. „Erinnerungen, Träume, Gedanken“ enthalten, eingebettet in die Biografie C.G. Jungs, die Essenz der Jungschen Psychologie. Sie regen an, zu träumen, zu sinnen, nachzuspüren, der eigenen Seele zu folgen.
Die letzten Sätze lauten:
Wenn Lao Tse sagt: „Alle sind klar, nur ich allein bin trübe“, so ist es das, was ich in meinem hohen Alter fühle. Lao Tse ist das Beispiel für einen Mann mit superiorer Einsicht, der Wert und unwert gesehen hat, und der am Ende des Lebens in sein eigenes Sein zurückkehren möchte, in den ewigen unerkennbaren Sinn. Der Archetypus des alten Menschen, der genug gesehen hat, ist ewig wahr. Auf jeder Stufe der Intelligenz erscheint dieser Typus und ist sich selber identisch, ob es ein alter Bauer sei, oder ein großer Philosoph wie Lao Tse. So ist das Alter – also eine Beschränkung. Und doch gibt es so viel, was mich erfüllt: die Pflanzen, die Tiere, die Wolken, Tag und Nacht und das Ewige in den Menschen. Je unsicherer ich über mich selber wurde, desto mehr wuchs ein Gefühl der Verwandtschaft mit allen Dingen. Ja, es kommt mir vor, als ob jene Fremdheit, die mich von der Welt solange getrennt hatte, in meine Innenwelt übergesiedelt wäre und mir eine unerwartete Unbekanntheit mit mir selbst offenbart hätte.
C.G. Jung
Das erinnert mich an Allan Watts (Nature of consciousness): „I don’t know who I am unless I know who you are“ „To describe someone you also need to describe the environment because you stand in relation to it“
Auf YouTube findet sich der ganze Vortrag dazu. Sehr empfehlenswert.
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