„Die tiefe Langeweile“ ist die Überschrift eines Kapitels in dem Büchlein „Müdigkeitsgesellschaft“ von Byung-Chul Han.
Der Philosoph macht darin zunächst klar, dass das, was uns als Fortschritt gilt oder zumindest erscheint, ein Rückschritt ist. Die ständige Exposition von Reizen aller Art, die fortwährend wechselnde Inanspruchnahme unserer Aufmerksamkeit – sei sie von außen verlangt oder freiwillig vollzogen – entspricht einem Aufmerksamkeitsmodus der Tiere. Die menschliche Zivilisation, als Zustand von streßreduzierender Organisation menschlichen Zusammenlebens, bringe eine Qualität einer tiefen, kontemplativen Aufmerksamkeit hervor. Sie erst ermöglicht die Schau, den gedehnten Blick, das lange Lauschen, Blicken auf die Dinge, sei es nach außen, sei es nach innen.
Dem entgegengesetzt ist die gehetzte, fragmentierte Aufmerksamkeit der Tiere. Das Tier muss meist auf der Hut sein, denn seine Fressfeinde sind fast allgegenwärtig. Selbst beim Fressen, ebenso wie beim Kopulieren, muß es aufpassen, nicht selbst gefressen zu werden. Diese Hyperaufmerksamkeit mit ihrer anhaltenden Bereitschaft zum Fokuswechsel steht im Gegensatz zum Verweilen bei den Dingen, Gedanken und Gefühlen oder dem Austausch mit anderen.
Der Mensch der späten Moderne nun wählt, so Han, diesen Modus freiwillig, indem er sich einem fortwährenden Wechsel der Reize und gar der Gleichzeitigkeit verschiedener Aufmerksamkeitsbrennpunkte (im sog. Multitasking) hingibt. Nur das Innehalten, das Verweilen, nur die schauende, lauschende Haltung aber kann sich dem Leben wirklich nähern. Nur diese Haltung ermöglicht das Auftreten des „Traumvogels“ (W. Benjamin), der „das Ei der Erfahrung (im Gegensatz zum „Event“, LE) ausbrütet“.
Diese Überfülle an Aufmerksamkeitsbezügen und inneren Ausrichtungen aber erzeugt keine Fülle, sondern eine Leere. Diese Leere ist die Erschöpfung, die Depression, die tiefe Müdigkeit, die aber nicht sein darf, weil sie dem ständigen Könnenmüssen (Yes we can, Nichts ist unmöglich), dem fortwährenden Erlebenmüssen, Bereitsein- und Motiviertseinmüssen zuwiderläuft. Sie mündet in die nervöse Müdigkeit, die überreizte und nicht zur Ruhe kommenden Erschöpfung, die Neurasthenie. Sie ist der Infarkt der Seele, die Krankheit der industriellen und postindustriellen Moderne.
Ich (32) habe heute sowohl meinem Vater, als auch kurz darauf meiner Mutter (beide über 60) gesagt, dass ich es respektlos finde, wenn sie aufs Handy schauen, wenn ich ihnen gerade etwas erzähle. Meine Mutter hatte bis vor ein paar Monaten noch höllische Angst vor einem Smartphone und Whatsapp… Es ist wie ein Virus. Die einzige Heilung ist Aufmerksamkeit – gegenüber den Mitmenschen, aber vor allem sich selbst.
Das war heute wirklich ein Schock für mich. Es heißt ja immer die junge Generation sei so auf das Smartphone fixiert… Ich fasse es nicht. An Weihnachten!
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Dieses Phänomen kann man sehr gut einmal beobachten, wenn man „alte“ und neuere Filme vergleicht. Für mich als jemand, der mit CGI (computer generated images) in Filmen groß geworden ist und der es gewohnt ist, dass jeder Gedanke und jedes Gefühl durch aufdringliche Monologe vorgekaut wird, sind „alte“ Filme befremdlich. In ihnen wird dem Rezipienten Zeit gegeben, Gefühle bei sich selbst entstehen zu fühlen, sich in die Protagonisten einzufühlen. Es sind Pausen, sogar ohne Musik, die einem sonst die Stimmung diktieren würde, vorhanden.
Die absolute Perversion dieser Entwicklung hin zu Schnelllebigkeit im Filmischen sind nun die „neuen“ Serien. Leider bin auch ich dem durchaus erlegen. Umso größer ist jedoch der Effekt, wenn ich mal Abstinenz übe…
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Schönes Beispiel!
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