Mein Ohr hat’s vernommen, mein Herz hat’s gehört
Schneidermeister Hürdler
Den Schneidermeister Hürdler kennt keiner. Außer mir. Was wohl auch nicht ganz stimmt. Denn Herr Hürdler lebte zwar, da geschieden, alleine. Aber er hatte eine damals schon erwachsene Tochter. Zudem war er Mitglied in einer Sekte, wie man damals sagte und übte dort, so erzählten meine Eltern, eine hochrangige Funktion aus. Also kannten ihn seinerzeit diejenigen, die ihn eben kannten, und es sei ihm zu wünschen, daß sich außer mir noch einige andere Menschen an ihn erinnern.
Im eigentlichen Sinn aber ist der Schneidermeister Hürdler vollkommen unbekannt, im Gegensatz etwa zum Tapferen Schneiderlein oder zum Schneider von Ulm.
Dennoch hat der Hürdler es hier herein, in die Radikale Poesie geschafft, und das kommt so: als ich noch ein ziemlich junges Kind war, ließen meine Eltern sich gelegentlich Kleidungsstücke von einem Schneider anfertigen oder auch ändern. Wir waren nicht reich. Jedoch war es zu dieser Zeit offenbar noch leichter erschwinglich, sich ab und an einen Anzug nach Maß machen zu lassen. Zudem habe ich meine Mutter in Verdacht, daß sie, die nach dem Krieg eine Zeitlang in der Schweiz gelebt hatte, meinem Vater einen bestimmten Lebensstil nahelegen wollte. Und dazu gehörte womöglich ein Schneider.
Der Vater, ein mittlerer Beamter, ging stets mit Anzug ins Büro. Das war damals üblich, wenn man im Amt arbeitete. Mein Vater ging auch nicht zur Arbeit (und schon zweimal nicht hatte er einen Tschobb), er ging zum Dienst. Und dafür brauchte er ein g’scheites Gwand, wie man dort sagt, wo ich herkomme. Dieses gescheite Gewand anzufertigen lag nun – ebenso wie manches Kostüm für meine Mutter – im Verantwortungsbereich des Schneidermeisters Hürdler. Und wenn ich mir vor Augen führe, in welch grotesker Aufmachung manche heutige Zeitgenossen sich im öffentlichen Raum bewegen – Stichwort prole drift – dann empfinde ich die von mir oft bieder gescholtenen Anzüge meines Vaters im Nachhinein als Wohltat.
Das besondere bei Hürdler war, dass er ins Haus kam. Er kam selbst Abends und am Wochenende, immer freundlich, immer zu Diensten. Er hatte eine lederne Tasche, und in der brachte er Stoffproben, sein Maßband, seine Nadeln, seine Kreide, oder aber auch, wenn der Anfertigungsprozeß schon weiter fortgeschritten war, die lose vernähten Teile eines Kleidungsstücks zur letzten Probe.
Das alles ist nicht Jahre, sondern Jahrzehnte her. Womöglich hat der Hürdler meinen Kommunionsanzug genäht, auch den zur Firmung. Nach Auskunft meiner Eltern war er in seiner „Sekte“ ein „Bischof“. Ich versuchte oftmals, mir den Herrn Hürdler als einen Bischof vorzustellen, allein es gelang mir nicht. Ich habe einmal einen Bischof persönlich kennengelernt, das war ein Weihbischof, und der hat mich gefirmt. Gefirmt war man, wenn einem der Herr Bischof eine kleine Watschn gegeben und dazu etwas gemurmelt hat. Dann sollte der Hl. Geist in einem Platz finden, was bei mir damals nicht recht gelungen ist. Ein Bischof, das war ein Herr, vor dem alle Respekt hatten und der ein wertvolles langes Kleidungsstück trug und dazu eine steife hohe Mütze. Er ging auch nicht, sondern schritt, umgeben von allerlei Begleitung, Rauch und Geklingel. Damit konnte ich mir den Herrn Hürdler gar nicht vorstellen.
Herr Hürdler war der Sprache nach ein Flüchtling. Woher er genau kam, könnte ich nicht sagen. Lasse ich in meiner Erinnerung sein Sprechen nachklingen, so würde ich es als Schlesisch oder Sudetendeutsch einordnen.
Das wesentliche an ihm war seine Freundlichkeit. Seine wachen Augen lächelten stets, sie waren klein, wässrig und lebendig. Und er war bemüht. In einem angenehmen, heiteren Sinn. Man merkte, dass er die Menschen liebte. Ob er selbst geliebt wurde, vermag ich nicht zu sagen. Heute kommt der Herr Hürdler mir vor wie ein verlorener, netter älterer Herr, den die Welt nicht geliebt hat (woher nehme ich das?), der es ihr aber mit Freundlichkeit vergalt. Bei meinen Eltern war er gern gesehen, seine Besuche waren eine Freude und auch ich als Kind mochte ihn. Das merke ich heute noch, wenn ich an den Hürdler denke. Irgendwann war er nicht mehr da. Er kam nicht mehr, an den Grund kann ich mich nicht mehr entsinnen. Wahrscheinlich war er krank und ist gestorben, denn er war damals schon ein alter Mann. Stets aber hat er eben diesen Satz gesagt, mit einer vertrauensvollen Geste der Mutter gegenüber, wenn sie z.B. einen Änderungswunsch hatte: „Mein Ohr hat’s vernommen, mein Herz hat’s gehört“.
Und ich sehe ihn vor mir, den Hürdler, wie er dabei lächelt mit seinen warmen Augen und wie er nickt, so als wolle er seinem Gegenüber seine Glaubhaftigkeit noch mehr verdeutlichen. Ich finde diesen Blick und diese Geste im Hier und Heute nicht mehr. Aber ich vermisse sie.
Bei uns war es die „Tante Else“, geflüchtete Damenschneiderin aus Chemnitz.
Die Kleider für mich waren meist „auf Zuwachs“ genäht, für Mädchen nähen war nicht wirklich ihr Ding.
Besonders erinnere ich ein Schottenkleid aus kariertem Wollstoff, das jahrelang passte, weil immer noch am Saum was rausgelassen werden konnte, und oben herum großzügig geschnitten war, so dass da auch viel „Spiel“ war zum Reinwachsen – ich liebte es sehr.
Ein Dirndl aus vielen Einzelteilen, mit 4 Blusen und vier verschiedenen Schürzen – fast immer war es anziehbereit.
Und ein genialer Wickel-Wenderock, mit Bändsel zu schließen, der auch viele Jahre passte.
Hach!
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Ich habe ebenso das Gefühl, dass die Menschen sich heute nicht mehr mit dem Herzen zuhören. Für mich hieße das, dass man mit einer freundlichen Haltung auf andere zuginge. Wobei – manchmal, wenn einem ältere Menschen begegnen kann man so etwas noch erleben. Neulich in einem Café hatte ich so ein Erlebnis. Da redet man auch schon mal ein zwei nette Sätze mit völlig Fremden. Und man unterstellt diesen dann nicht gleich, dass sie gestört sind. Das habe ich auch erlebt. Wie seltsam es eigentlich ist, in welcher komprimierten Form sich Distanz heutzutage beispielsweise in einer dicht bepackten Straßenbahn breit machen kann… Das fällt mir zu dieser Geschichte ein. Zugegeben, eine ziemlich weit hergeholte Assoziation. Aber Ihre Geschichten fallen eben auf fruchtbaren Boden, denke ich.
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