Unterwegs. Von meiner Unterkunft aus will ich den nahen Hainich besuchen, einen Nationalpark in Thüringen an der Grenze zu Hessen. Der Hainich ist einer der größten zusammenhängenden Buchenwälder in Europa und ich habe schon wunderbare Dokumentationen darüber gesehen.
Ich komme durch den Ort Mihla (wie schön all diese thüringischen Ortsnamen auf ein „a“ hin ausklingen, Nazza, Mihla, Langensalza …). Der Ort aber ist zweifach gestraft. Zum einen ist die schmale Ortdurchfahrung ein Nadelöhr für den Schwerlastverkehr. Am Straßenrand stehen Protestplakate – „Brummis raus aus Mihla!“. Ich fühle mit. Dann aber kommt mir die zweite Katastrophe entgegen. Als die Ortsstraße einen Abhang hinunterführt, wird der Blick frei in die Weite, nach Hessen hinüber. Entgegen kommt meinem Blick ein Windmühlenindustriepark von ausgesuchter Häßlichkeit. Eines dieser Riesenmonster steht neben dem anderen, alle zusammen dominieren sie die Ansicht, stehen da als alles überragende Wahrzeichen der neuen Zeit.
Dann fahre ich die Landschaft bergauf zum Naturpark. Und auch dort führt mein Weg hinauf zum Aussichtspunkt auf der Höhe, und in der Weite, im Blick nach Hessen hinüber, steht ein riesiger, dichter Wald, der die gesamte Landschaft und den Horizont einnimmt: ein Windrad neben dem anderen. Sofort fühle ich mich beraubt, bestohlen und betrogen. Und ich weiß, daß zu meinem Protest, würde er öffentlich, auch noch Beschimpfung und Häme kommen würden. Denn die neue Zeit fordert mit Vehemenz und Inbrunst die Rettung der Natur durch ihre Zerstörung. Rettet die Natur, indem ihr sie zerstört, so lautet die implizite Botschaft. Und alle, fast alle folgen und sind überzeugt davon, genau das richtige zu fordern, gut zu finden und vor der Nase zu haben. Das hätte sich George Orwell ausdenken können: Liebe ist Haß, Krieg ist Frieden, Naturzerstörung ist Naturrettung.
Vor Jahrmillionen sind unsere menschlichen Vorfahren von den Bäumen heruntergekraxelt und haben angefangen, sich aufzurichten. Vom Vierfüßlergang, der den Blick naturgemäß verengt, hin zum aufrechten Gang, der den Blick in die Weite erlaubt. Der Blick zum Horizont gehört ebenso zu unserem Urerbe wie unsere Urheimat, der lichte Wald und die Savanne. Nicht umsonst gehört der Blick von einer hohen Warte auf einen fernen Horizont zu unseren inneren Ruhebildern. Ich erinnere mich, vor Jahren seinen Satz gehört zu haben, in einer Fernsehsendung, von einem nordafrikanischen Nomaden, der nun in einer französischen Großstadt lebte: er werde verückt, sagte er, weil er den Horizont nicht mehr sehe, nur noch Häuserfronten vor seinen Augen, auch wenn er kilometerweit gehe.
Ja, das ist halt so, höre ich meinen fiktiven inneren Gesprächspartner sagen, oder bist du vielleicht für Kohlekraftwerke? Da steh ich nun da, ganz Fool on the hill, und höre mich innerlich stammeln. Von wer braucht eigentlich all den Strom? über wir brauchen kleine Lösungen, individuelle, Wärmepumpen, Stirlingmotoren, Kleinwindräder in den Gärten bis hin zu ach, ich weiß es doch auch nicht, ich bin Psychologe und kein Ingenieur reicht mein reicht mein inneres Stammeln.
Dumm steh ich mal wieder da, auf dem Hügel mit dem Blick auf diese Scheißmühlen, die mir den Blick rauben. Wer uns den weiten Blick raubt, ist ein Verbrecher, kommt es mir in den Kopf. Darf solch ein Satz gesagt werden? Na, er ist ja schon da. Ob er gesprochen wird, ist eine andere Sache. Und darf ich überhaupt wir sagen, muß ich nicht beim ich bleiben: wer mir den weiten Blick stiehlt, ist ein Verbrecher?
Jetzt wird’s mir zuviel. Ich rufe meinen Hund zu mir und gehe einen Abzweig. Gehe den Weg tiefer in den Wald hinein. Dort webt sich ein ganz leises, sachtes Säuseln eines kaum vernehmbaren Windes, der sich in den herbstschütteren Buchenästen fängt, in die Stille hinein.