Ein schwarzes Rechteck in der linken oberen Bildhälfte dominiert das Augustkalenderblatt von Hans Neidhardt. Darin wiederum nimmt das Wort Schmerz, wie mit dickem weißen Pinsel geschrieben, den Raum ein.
Aus dem Wort Schmerz heraus quillt horizontal nach rechts der uns schon bekannte rote Pinselstrich. Diesmal ist er, passend zum Text, in terra gehalten. Die Linie führt uns an den Rand – auch dies eine Korrespondenz zum Text? Denn der große Schmerz, von dem die Rede ist, bringt uns eben genau dorthin – an den Rand.

Überwinde alle Bitterkeit,
Die vielleicht daher rührt,
Dass du dem großen Schmerz,
der dir anvertraut wurde,
nicht gewachsen warst.
Gleich der Erdmutter,
die den Schmerz der Erde
in ihrem Herzen trägt,
Ist jeder von uns teil von ihrem Herzen.
Deshalb ist jedem von uns
ein bestimmtes Maß
vom schmerz der Erde anvertraut.
Wiederum haben wir es nicht mit einem Kalenderspruch der leichten Sorte zu tun. Wer kennt ihn nicht, den Schmerz? Den körperlichen und den seelischen? Und wer will schon Schmerz fühlen?
Und nun – welch Provokation! – ist hier die Rede vom Schmerz, der uns anvertraut wurde. Alle Bitterkeit sollen wir überwinden, wenn wir ihm nicht gewachsen sind. Ist das nicht eine Frechheit?
Byung-Chul Han spricht von unserer Gesellschaft als Palliativgesellschaft. Eine Gesellschaft, die versucht, den Schmerz zu verbannen. Durch die Versprechen der Waren- und Konsumwelt. Durch das Versprechen des nie endenden Genusses. Durch das Versprechen der Schmerzfreiheit durch entsprechende Arzneimittel. Und durch das Verbannen des Schmerzes aus dem öffentlichen Bewußtsein. Aus den Bildern, die ständig auf uns einströmen.
Wir haben die Übergänge aus unserem kollektiven Bewußtsein und den praktischen Lebensvollzügen verbannt. Alle traditionellen Gesellschaften rund um die Welt und zu allen Zeiten kannten Initiations- und Übergangsrituale. Sie wußten, dass Übergänge schmerzhaft sind. Dass man sie begehen muss, oft im wahrsten Sinn des Wortes. Dass sie Begleitung brauchen. Und dass sie vorhanden sein müssen im kollektiven Bewußtsein – „und wenn du dies nicht hast, dieses Stirb und Werde …“
Wir tun so, als könnten Konsum, Anpassung an die Leistungsgesellschaft, Besitz und eine gute Altersvorsorge uns retten vor dem Schmerz. Das aber ist ein Irrtum. Der Stress, die Überbetonung von Anstrengung und Leistung führen zwangsweise zu Schmerz. Seelischer Schmerz, der sich über den Körper ausdrückt und der zu jahrelangen vergeblichen Arztbesuchen führt. Der im Idealfall zum Ausdruck und zur Veränderung des Lebens führt. Leider zu selten.
Leben sei Leid, behauptete der Buddha. Nunja, hoffentlich nicht nur. Aber gewiß, das Leid können wir nicht verbannen aus unserem Dasein.
Der Kalenderspruch erzählt uns vom Schmerz der Erde, der Erdmutter. Sie, die das fortwährende Sterben und Werden, den Todes- und den Geburtsschmerz täglich tausendfach in sich austrägt und in ihm schwingt. Der Schmerz ist somit ein Bestandteil des Organischen, dessen Teil wir sind, er ist nicht wegzudenken oder auszuschalten.
Tröstlich zu wissen, dass wir alle Kinder von Mutter Erde sind. Dass sie unseren Schmerz trägt, solange wir sind. Und unsere Tränen, unser Schreien und unser gelegentliches Verstummen im Leid aufnimmt und transformiert. So wie sie es seit Millionen von Jahren tut.
Pir Vilayat Khan war ein Sufimeister und war bis zu seinem Tod 2004 geistliches Oberhaupt des internationalen Sufiordens.
Kalligrafie: Hans Neidhardt
Zitat: Pir Vilayat Khan
Worte: Lothar Eder
Das ist einfach nur gut und radikal ist es auch.
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