Die Radikale Poesie ist vorgestern, am 23.2., 5 Jahre alt geworden. Das Leben, die Gesellschaft und die Welt, sie alle sind, so scheint mir, seit dem Februar 2017 deutlich unpoetischer geworden.
Grund genug, die Radikale Poesie weiterzuführen. Das finde zumindest ich als Herausgeber und die zunehmenden Klickzahlen der letzten beiden Jahre scheinen mir Recht zu geben. Aber vielleicht ist das auch nur eine eingebildete Idee eines Herausgebers …
Ich habe überlegt, welchen Text aus den vergangenen Jahren ich anlässlich des Geburtstages nochmals einstelle. Da fiel mein Blick auf ein unscheinbares Taschenbüchlein, das bei mir herumliegt. Ich habe es nicht gekauft, sondern vor ein paar Wochen vom Fensterbrett der Heilpraktikerin im Vorderhaus meiner Praxis weggenommen. Ab und zu stellt sie dort Bücherkisten an die Straße, aus der sich jeder bedienen kann. Ich habe ein wenig darin gekramt und sofort danach gegriffen, weil ich Siegfried Lenz sehr mag und das Büchlein angenehm dünn war.
Letzte Sätze eines Buches, vor allem bei Romanen, sind nach meinem Empfinden besonders poetisch. Nimmt man sie aus dem Kontext, entfalten sie einen Duft, den sie als bloßer Schlußpunkt des Romans nicht haben. Völlig aus dem Zusammenhang gerissen, haben wir es nur mit Andeutungen und Atmosphärischem zu tun – alles wie leichte Tupfer auf der Leinwand; in den Zwischenräumen können unsere eigenen Geschichten, Assoziationen und Bilder entstehen lassen. Und eben dies ist radikal poetisch. In der aktuellen Welt ist allzuviel vorherbestimmt, mit Bildern vollgestellt, es bleibt keine Zeit zum Verweilen, zur Entfaltung unseres Inneren aus dem Wirkenlassen der Eindrücke.

Das Büchlein, das ich mitgenommen hatte, war zerlesen. Der Umschlag war geknickt. Eine Aufschrift war rudimentär zu entziffern. „Ab Do“ stand da, dann Unleserliches, danach „Jan“ (Januar oder ein Jan, den der Schreiber treffen wollte oder von dem das Buch stammte?). Darunter „16.30“. Allein dies regte meine Phantasie an und ich dachte mir allerlei Szenarien aus, die an einem Donnerstag um 16.30h in einem Januar oder mit einem Jan vor sich gehen könnten. Das gefiel mir. Es blieb alles unbestimmt. Genauso wie es beim Lesen der letzten Sätze geschehen kann, wenn wir das Buch vorher nicht kennen.
Wir wissen nicht, wer Arne ist, wer in den Sätzen „ich“ ist und wer „er“. Wir haben keine Ahnung, um wen und worum es geht. Und doch entsteht etwas Ahnendes, Wagner hätte es das „Wähnende“ genannt, in uns, wenn wir es erlauben. Grade in den aktuellen Zeiten mit einem Waffengang in Europa bin ich der Meinung: mehr Poesie bedeutet mehr Frieden. Allein dies ist ein Ansporn, weiterhin radikal poetisch zu bleiben.
Und natürlich freue ich mich über Rückmeldungen von Ihnen, liebe Leserinnen und Leser. In der Kommentarfunktion ist Gelegenheit dazu.
Ihr/Euer Lothar Eder