Erneut bildet der Monatskalender meines Kollegen Hans Neidhardt die Grundlage für das seit vielen Jahren monatlich wiederkehrende Kalenderblatt in der Radikalen Poesie.

Dieses Jahr hat Hans Neidhardt wieder selbst alle Blätter gestaltet. Das Motto des Kalenders lautet Vielfalt und diesem Motto entsprechend finden wir auf den einzelnen Blättern Zitate verschiedener Autoren.

Der Januar bringt uns ein Zitat von Joanna Macy, der US-amerikanischen Umweltaktivistin, die eng mit der sog. Tiefenökologie in Verbindung steht.

Wenn sich Teile selbstorganisiert in ein größeres Ganzes einfügen, treten Eigenschaften auf, die aus denen der individuellen Teile nicht vorhersehbar waren.
Neue Verbindungen zu knüpfen, bringt neue Möglichkeiten ins Spiel.

Dieser Prozess bewirkt das Gefühl, unterstützt zu werden, von Kraft durchströmt, die aus Solidarität entsteht.
Heiße Vielfalt willkommen.
Die Selbstorganisation des Ganzen erfordert die Verschiedenheit seiner Teile.

Joanna Macy

Wir begegnen in diesem Zitat einigen zentralen Begriffen – dem größeren Ganzen, der Vielfalt, einer durchströmenden Kraft und der Selbstorganisation.

Wir könnten vielleicht einwenden, dass nicht alle Verbindungen von sich selbst organisierenden Teilen unvorhersehbar und nicht alle Möglichkeiten erwünscht sind. Kartoffeln und Tomaten beispielsweise sind sich selbst organisierende pflanzliche Wesen und wir mögen vielleicht beider Geschmack – zusammen in einem Beet aber vertragen sie sich schlecht und behindern wechselseitig ihr Wachstum. Vielfalt ist also nicht per se gedeihlich, manche Elemente passen zueinander, andere nicht.

Der Begriff der Selbstorganisation ist keineswegs neu, er stammt aus Kants Kritik der Urteilskraft und meint die bildende Kraft, die allen organisierten Wesen im Gegensatz zu Maschinen innewohnt.

Der Naturphilosoph Schelling nahm im 19. Jh. Kants Vorstellung auf und sprach in Zusammenhang mit dieser Kraft der Selbstorganisation von der Weltseele.

Hier findet sich eine Anknüpfung zum Zitat von Joanna Macy, denn sie spricht vom größeren Ganzen und dem Gefühl, unterstützt und von einer Kraft durchströmt zu werden. Wir haben für diese Kraft verschiedene Namen: Gott, Heiliger Geist, Prana, allgute Kraft oder eben, wie Schelling sie nennt: Weltseele.

Mit dieser Sichtweise bewegen wir uns über den Begriff der Selbstorganisation, wie ihn die Systemtheorie des 20. Jh. gebraucht, hinaus. Denn dort finden Seele, Geist und Jenseitiges keinen Platz, alles ist auf Struktur und Funktion reduziert.
Die Selbstorganisation aber verweist uns auf eine Kraft, die allem Leben innewohnt und die alles beinhaltet und durchströmt. Sie verweist auf das, was wir nicht direkt sehen und messen, aber erfahren und fühlen können, wenn wir uns von einer rein materialistischen Sicht auf die Welt lösen.
Joanna Macy ermuntert uns dazu, uns vertrauensvoll dieser Kraft zu überlassen.

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Kalligrafie: Hans Neidhardt

Ein Gedanke zu “Das Kalenderblatt Januar 2023

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