Gottlieb Zürn ist Immobilienmakler und mag seinen Beruf nicht mehr. Deshalb hat seine Frau die Geschäfte übernommen und er macht den „Innendienst“.
Da er ein poetischer Mensch ist, gehört das „Nichtstun“ zu seinen Lieblingsbeschäftigungen. Es ist der „Duft der Zeit“ (Byung-Chul Han), dem er in seinem Leben Raum geben möchte.

Martin Walsers Romanfigur und das Zitat stehen für die Romantisierung, die Poetisiserung des Alltags, deshalb finden sie Eingang in die Radikale Poesie.

 

Er hörte den See rauschen, aber da er, wenn er so saß, nichts zergliederte, rauschte für ihn nicht der See, sondern der Tag oder die Welt oder das Dasein selbst. Das war Gottliebs Lieblingstätigkeit, so zu sitzen. Nichtstun war seine Liebelingstätigkeit.

Nichtstun war auch sein Lieblingswort. Manchmal bedeckte er Seite um Seite mit diesem Wort, schrieb es in einem oder in zwei Wörtern. Schrieb man es in zwei Wörtern, dann wurde noch spürbarer, daß nichts tun auch eine Tätigkeit war. Man tat ja nichts. Das war unbestreitbar ein Tun. Dieses Tun wurde durch das nichts überhaupt nicht aufgehoben

Es war eine spezielle Tätigkeit, nichts zu tun. Etwas tun war eine Art, nichts tun eine andere Art Tätigkeit. Man kann sehr fleißig sein beim Nichtstun.

Er wußte, warum er das Nichtstun jeder anderen Tätigkeit vorzog: die Zeit verging dabei am schnellsten. Kaum saß er an seinem Schreibtisch und fing an, nichts zu tun, rief ihn Anna schon wieder zum Mittagessen. Da man nicht einmal den engsten Familienangehörigen begreiflich machen konnte, daß Nichttun eine Tätigkeit und als solche achtenswert sei, mußte er sein Nichtstun verbergen; natürlich unter etwas, DAS SOFORT ALS TÄTIGKEIT ERKENNBAR WAR. BÜROARBEIT ZUM BEISPIEL.

Er war Annas Buchhalter. Anna lobte ihn, wie man einen Angestellten lobt. Seit er sich auf den Innendienst zurückgezogen hatte, erledigte er sogar alle Steuerangelegenheiten selber. Er hätte gern gewußt, ob Anna und die Kinder ihn für faul hielten. Er wagte nicht zu fragen. Er fürchtete sogar, sie würden ihm, ohne daß er fragte, eines Tages sagen, was sie von ihm hielten.

Wenn sich Annas schritte wie ein rasantes SChlagzeugsolo seiner tür näherten, begann er zu schwitzen. Leider nur in den Achselhöhlen. Er hätte zu gern Schweißtropfen auf seiner Stirn präsentiert. Vom Nichtstun, liebe Anna. Das ist nämlich, so schön es ist, doch auch anstrengend. Vielleicht sogar aufreibend. Manchmal.

Aber verglichen mit den Scheußlichkeiten, die dem zugemutet werden, der draußen eine Ware anbieten muß, war sein jetziger Zustand Idylle, Paradies.

Martin Walser, Jagd

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