Im vorletzten Jahr ist unter diesem Titel Roger Willemsens letztes Buch erschienen, nach seinem Tod.
Der Text ist ein Manifest. Seine Kürze steht in umgekehrtem Verhältnis zu seiner Kraft und seinem Gehalt.
Sollte ich nur ein paar wenige Bücher auf eine einsame Insel mitnehmen dürfen, dieses Buch würde wohl dazugehören.
Der Text selbst hat auf kleinem Seitenformat gerade mal 48 Seiten. Er nennt sich „Zukunftsrede“. Es handelt sich dabei um eine fiktive Rückschau auf unsere jetzige Zeit. Willemsen nimmt darin eine fast gnadenlose Zeitdiagnose vor, ohne je abwertend oder scharf zu werden. Und erreicht dabei eine Tiefe der Betrachtung, die nicht viele Worte braucht. Er wirft einen nüchternen Blick auf die Schnellebigkeit, die Atemlosigkeit unserer Zeit, unsere Verlorenheit in der digitalen Welt, die mangelnde Tiefe und Unerheblichkeit unserer ständig wechselnden Aufmerksamkeiten – ja, man könnte sagen, Willemsen beklagt den Mangel an „gedehntem Blick“.
Man kann aus diesem Buch eigentlich keine Passage hervorheben, weil fast jeder Satz von Belang ist.
Aber die nachfolgende Passage bietet sich an, weil sich darin ein wörtlicher und inhaltlicher Bezug zur „radikalen Poesie“ findet:
„Im Zögern unterscheidet sich das Denken von der Arbeit. In der Unschlüssigkeit, der verweilenden, unabgeschlossenen Geste, in der Trägheit sogar tun sich Zustände der Sammlung auf. Dieses nicht effiziente, abirrende, irgendwie ausgesetzte Verhalten zur Welt, eines, dem keine App zu Hilfe eilt, dieses desorientierte, sich selbst überlassene Treiben ist im Kern poetisch, aus der Zeit gefallen und deshalb geeignet, ihre Betrachtung aus der Halbdistanz zu stimulieren“ (S. 48)
Das Ende des Buches ist fast spirituell zu nennen. Es verweist auf unser Kindsein in Bezug auf Mutter Erde, indem es einen Kosmonauten zitiert, der sein Erleben im Raumschiff mit dem Blick auf die Erde beschreibt: er ist ein Kind, ein Säugling, das sich nach dem Mutterschoß sehnt. Man denke an die letzten Sequenzen aus Stanley Kubricks „2001 – Odyssee im Weltraum“ – dort finden sich die Bilder zu dieser Textstelle!
So endet dieses Buch, wie ich finde, implizit mit einer Vision, die Hoffnung macht: Sei Dir bewußt, daß Du ein Kind von Mutter Erde bist, die dich nährt, trägt, bereichert, vitalisiert und heilt, wenn Du Dich ihr anvertraust!
Roger Willemsen, Wer wir waren, S. Fischer Verlag 2017