Er selbst hat allem Augenschein nach ebensowenig Aufhebens von sich gemacht wie seine Romanfiguren. Spätestens jedes zweite Jahr aber konnte man mit einem Roman aus seiner Feder rechnen. Und nicht wenige kamen zu dem Schluß, daß es doch immer dasselbe sei, worüber dieser Autor schreibe: ein in der Regel männlicher Protagonist, der in der Regel gescheitert ist, erlebt einen in der Regel banalen Alltag über den der Autor in der Regel in der Ichperspektive schreibt.

Wilhelm Genazino aber war stets ein Bewohner, Beobachter und Berichterstatter der Zwischenräume. Er würde es selbst wohl nicht so gerne gehört haben, doch er war in seinen Inhalten und seinem Stil ein Autor,  wie er nur aus der Perspektive der Nachkriegszeit denkbar war. Immer wieder, bis ins hohe Alter, tauchten die Eltern in den Romanen auf. Und man wußte: es ist die Rede von Genazinos Eltern, von seiner Kindheit. Zwei orientierungslose Eltern ziehen ein Kind groß, das in eine weitere Orientierungslosigkeit hineinfindet und diese fast zelebriert. Womöglich war das Schreiben Genazinos Rettungsanker. Im Roman Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman deutet er dies an. Da sitzt er (der Protagonist) mit dem Vater in der Küche und es ereignet sich der typische Vater-Sohn-Konflikt. Und da denkt sich der Protagonist: über dich schreib ich mal. Das ist seine Rettung. Wer schreibt, der findet einen Hebelpunkt in der Welt, der ihm, wenn schon keinen festen Stand, so doch einen stabilen Standpunkt gibt. Wer schreibt der bleibt.

Aber Psychologie beiseite. Genazino hat die Verlorenheit in der Welt in eine Kunstform gebracht. In einem Fernsehinterview sagte er vor Jahren, die wesentliche Aussage seines Werkes sei es, die „Gesamtmerkwürdigkeit des Lebens“ zum Ausdruck zu bringen. So spiegelt sich wohl – Psychologie wieder „an“ – sein Lebensgefühl in seinem Werk. Etwas anderes Wesentliches aber kennzeichnet sein Werk: es ist der gedehnte Blick. So heißt ein Essay, so heißt auch ein Essayband von Wilhelm Genazino. Und er wendet diesen gedehnten Blick kompromißlos an. In der Art, wie seine Figuren auf die Welt und auf sich selbst schauen. Es ist dies ein dauerhaftes Innehalten, ein minutiöses Beobachten und Schildern von inneren und äußeren Vorgängen und deren Verknüpfung. Für mich hat diese Form der Beschreibung etwas, das mich an buddhistische Meditation erinnert – ein fortlaufendes Gewahrsein aller Vorgänge, seien sie scheinbar noch so banal. Genazino konnte einem diesen gedehnten Blick nahebringen, weil er über eine Sprachgewalt verfügte, die einen in den Bann zog.

 

Es gab, vor Jahren, eine Zufallsbegegnung mit ihm. Es war im Januar 2005. Genazino war zu einer Lesung in einem Mannheimer Gymnasium eingeladen, ganz in der Nähe meiner Praxis. Ich hatte über die Buchhandlung, die den Büchertisch organisierte, davon erfahren und gefragt, ob ich dazukommen könne. Es war möglich. Eine Stunde vor der Lesung ging ich hoch zur Hauptstraße, um etwas zu besorgen. Ich bog um eine Ecke und lief den Gehweg entlang. Und da stand er, unverkennbar. Da stand Wilhelm Genazino, in fast andächtiger Haltung vor dem Schaufenster einer Schreibwarenhandlung, in dem Faschingsartikel ausgestellt waren: Masken, Hütchen, rote Nasen mit einem Gummihaltering, Luftschlangen und Konfetti. Ich ging vorüber und mein Blick konnte sich von dem versunkenen Mann nicht lösen. Ich nahm mir ein Herz und sprach ihn an. Stellte mich vor, erwähnte, daß meine Praxis um die Ecke sei und daß ich nachher seine Lesung besuchen würde. Fragte, ob er denn über dieses Schaufenster schreiben werde. Er wisse es noch nicht, sagte er, aber sei dieses Schaufenster nicht großartig? Fast so wie in seiner Kindheit. Ich sei ein begeisterter Leser seiner Romane, fügte ich an. Ach, jetzt bringen Sie mich aber in Verlegenheit, machte Genazino, und in diesen Worten lag keine Koketterie. Welches Buch ich denn am liebsten möge? Ein Regenschirm für diesen Tag war meine Antwort. Ja, machte Genazino, das sei ja auch ein sehr psychologisches Buch, das sei ja passend, dass mich eben dies anspreche. Ich verabschiedete mich. An die Lesung erinnere ich mich nur dunkel. Aber ich erinnere mich, dass Genazino auf die Frage eines Gymnasiasten, ob er denn den Beruf des Schriftstellers empfehlen könne, sein bekanntes Diktum parat hielt: Es gibt kein Anrecht auf Applaus.

 

Mit Wilhelm Genazino verläßt ein Großer der Kunst des Unscheinbaren die Bühne. Der Meister des gedehnten Blicks ist vergangenen Mittwoch abgetreten. Er hinterläßt uns ein umfangreiches Werk, das zu lesen sich lohnt. Es kann helfen, der Gesamtmerkwürdigkeit des Lebens mit einer Haltung des gedehnten Blicks zu begegnen und darin immer wieder ein kleines Glück zu finden. Es ist das Glück des Moments, das durch Gewahrsein entsteht, und eben dies Gewahrsein ist der Wesenskern des gedehnten Blicks.

 

Foto: Lothar Eder

Ein Gedanke zu “Der Meister des gedehnten Blicks ist gegangen – zum Tod von Wilhelm Genazino

  1. Sehr schön geschrieben. Ich habe erst zwei seiner Bücher gelesen und war fasziniert davon, wie einem die Sätze unter die Haut kriechen. Ein Satz der mich besonders berührte war dieser: „Etwas von der Feinheit, die ich zum Leben brauche, finde ich nur in meiner Melancholie. “ (aus: „Das Glück in glücksfernen Zeiten“)

    Beeindruckt hat mich dabei vor allem die Implikation, dass es tatsächlich noch Platz für Feinheit in dieser Welt geben kann und dass diese sogar eine Lebensnotwendigkeit sein kann. Somit schwingt in gewisser Hinsicht, bei aller Melancholie, Zuversicht für mich mit, in dem, was Genazino schrieb.

    Das Wort „Sprachgewalt“ schien meiner Meinung nach nicht so treffend, ist es doch eher die Feinheit, die einem Gänsehaut beschert. Doch beim längeren darüber Nachdenken, wird das Wort „Sprachgewalt“ wohl eher der Wirkung gerecht, die er insgesamt beim Leser erzeugt.

    Es ist sehr schade, dass er gegangen ist. Doch hat er das Gefäß des Lebens (seines und das seiner Leser) gewiss bis oben hin mit Werken gefüllt, die es wert sind, gelesen zu werden.

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