Wir haben die Schönheit verbannt, die Griechen griffen für sie zu den Waffen. Ein erster, doch grundlegender Unterschied. Für das griechische Denken war stets die Begrenzungsidee vorherrschend. Es hat nichts auf die Spitze getrieben, weder das Heilige, noch die Vernunft, weil es nie etwas verleugnete, weder das Heilige, noch die Vernunft. Es hat alles einbezogen, den Schatten durch das Licht ins Gleichgewicht bringend. Unser Europa hingegen, das sich berufen fühlt, alles zu erobern, ist die Tochter der Unmäßigkeit. Es leugnet die Schönheit, wie es alles leugnet, was es nicht anbetet. Und es betet, sei es auch auf verschiedene Weise, ein Einziges an: den zukünftigen Sieg der Vernunft. In seinem Wahn versetzt es die ewigen Grenzen, und in diesem Augenblick stürzen sich düstere Erinnyen darauf und zerreißen es. Nemesis wacht, die Göttin des Maßes, nicht der Rache. Alle, die die Grenzen überschreiten, werden von ihr unerbittlich gestraft.

 

Mit Erstaunen liest man in diesem Essay von Albert Camus, Helenas Exil, denn er stammt aus dem Jahr 1948. An Aktualität hat er nicht verloren. Es ist faszinierend, zeitlose Texte zu lesen, weil sie uns Augen öffnen können, die im Lärm und Gebrüll der Zeitgenossenschaft verschlossen blieben. Wir leben in einer maßlosen Zeit, fröhnen einer Hybris des Machbaren und Verfügbaren, die jede menschliche Begrenztheit leugnet. Und wir steuern damit auf den Untergang zu. Albert Camus (1913-1960), Schriftsteller, Philosoph und Literaturnobelpreisträger, vermag uns mit einigen wenigen Sätzen unsere tiefen geistesgeschichtlichen Wurzeln und unseren Verrat daran aufzuzeigen.

Albert Camus, Helenas Rache; in: ders., Hochzeit des Lichts, Arche Verlag, S. 119-126

2 Gedanken zu “Zitat des Tages – Helenas Exil (Albert Camus)

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