In den Zeiten des Coronavirus einen Rückflug von den Kanarischen Inseln nach Deutschland zu bekommen, war nicht unbedingt eine leichte Angelegenheit. Es hat Nerven gekostet und am Tag des Abflugs merke ich dies deutlich. Mein ganzer Körper rebelliert, die Spannung zeigt sich in Übelkeit und starkem Schwindel. Ich weiß garnicht, wie ich in diesem Zustand in mein Auto, geschweige denn, wie ich in ein Flugzeug steigen soll. Die Rückreise scheint in Gefahr. In meiner Not bete ich, und nach einer Zeit wird es etwas besser. Die Frau schickt mir von daheim alle guten Geister und meinen Schutzengel zur Seite.
So fahre ich schließlich zum Flughafen. Fahre in den Bergen noch einmal rechts ran, um meine Blase zu leeren. Auf dem Rückweg zum Auto, steht da ein großer Fenchelbusch. Ich pflücke und esse reichlich davon, das entspannt den Magen. Wolf-Dieter Storl, der Pflanzenweise fällt mir ein. Und sein Satz, dass einem in der Not diejenige Pflanze zuwächst, welche man gerade braucht.
Das Auto stelle ich in der Tiefgarage des Flughafens in Santa Cruz ab und entlade mein Gepäck. Aus dem Augenwinkel sehe ich in etwa zehn Metern Entfernung einen Mann in Richtung Terminal laufen. Das ist doch … Instinktiv drehe ich den Körper, sodaß ich genauer hinschauen kann und wer läuft da? Wolf- Dieter Storl. Ohne nachzudenken rufe ich ihm zu und er bleibt stehen. Ob wir uns kennen würden? Nein, aber ich kenne ihn aus vielen Büchern und Videovorträgen. Und vor zwei Jahren sind wir uns schon einmal auf der Insel, in Puerto Naos, über den Weg gelaufen. Wir plaudern eine Weile. Er sucht einen Rückflug, allerdings nach München. Ich rate ihm, nach Möglichkeit diesen Flug zu nehmen, denn ob es weitere gibt, ist derzeit ungewiss. Zudem hat die spanische Regierung ein Dekret erlassen, demzufolge am Folgetag alle touristischen Unterkünfte geschlossen werden müssen. Und das Ticket sei ja automatisch auch eine Bahnfahrkarte, mit der er ins Allgäu komme. Er überlegt – auf die Idee sei er noch nicht gekommen, vielleicht gut, dass er mich getroffen habe. Bevor wie auseinandergehen machen wir noch ein Selfie.
Im Flugzeug dann sitze ich in der Reihe mit einem jungen Paar mit einem Säugling. Der kleine Aaron ist gerade mal vier Monate alt und brüllt sich die Seele aus dem Leib. Die Mutter erklärt mir, auf dem Herflug sei Aaron viel ruhiger gewesen. Durch die Atemschutzmasken, welche beide Eltern tragen, sehe er das Gesicht von Mutter und Vater, und damit deren Mimik nicht mehr vollständig. Mir ist sofort einsichtig, dass dem Kleinen damit etwas entscheidendes fehlt. Natürlich: wir brauchen die Mimik, um unser Gegenüber „lesen“ zu können. Und mehr noch: nur wenn wir alle Nuancen der Mimik intuitiv lesen, dann können wir mit dem Gegenüber in einen unsichtbaren gemeinsamen Resonanzraum eintreten. Dann erst ist die Situation „stimmig“.
Kleine Kinder, v.a. Säuglinge benötigen diese Art der Zuwendung wie die Muttermilch. In der Fachsprache nennt man dies Containment. Innerhalb dieses Resonanzraumes, in dem die Mutter die Emotion des Kindes spiegelt oder freundlich-zugewandt ist, erfährt das Kind seine eigene Befindlichkeit und bildet seine Identität, sein Selbstgefühl, aus. Diese Form der Resonanz ist für das seelische Überleben und für eine gesunde seelische Entwicklung des Kindes notwendig.
Der kleine Aaron weiß das alles nicht. Aber er weiß es, ohne dass er weiß dass er es weiß. Er erlebt einen Mangel, der ihn in Not bringt und der ihn brüllen läßt. Beide Eltern tun ihr Bestes, um dies mit Hutschen, Berührung, Körper- und Augenkontakt auszugleichen. Fasziniert schaue ich zwischendurch immer mal wieder auf den offenen klaren Blick, mit dem Aaron die Mutter fixiert. Er findet sich in ihr und ist beruhigt.
Es ist ein angenehmer Flug und sowohl die Piloten als auch das Servicepersonal sind sichtlich bemüht, uns Passagieren eine angenehme Heimreise zu bereiten. Es gibt kleine Imbisspakete für alle, und reichlich Wasser in Flaschen, denn der übliche Bordservice fällt aus. Einige fliegen ungewissen Zeiten entgegen. Denn Corona bzw. die Handhabung der befürchteten epidemischen Infektion bedeutet für viele wirtschaftliche und existentielle Unsicherheit. Auch für die Flugzeugbesatzung, die im Moment rund um die Uhr arbeitet, um alle aus dem Ausland sicher nach Hause zu bringen. Wenn aber die Flieger am Boden bleiben, droht sehr wahrscheinlich Kurzarbeit, wenn nicht gar mehr.
In Frankfurt hängt der Himmel tief und es ist kühl. Doch die Dankbarkeit, sicher und heil wieder nach Hause gekommen zu sein, überwiegt.