Heute vor 4 Jahren, am 22. Februar 2017, erblickte die „Radikale Poesie“ mit einem kleinen Beitrag das Licht der Welt. Es war eine kleine Gegenüberstellung von aus meiner Sicht poetischen Begriffen und deren Gegenteil. Über einen ganzen Zeitraum hinweg habe ich mir immer wieder derlei Gegensatzpaare aufgeschrieben. Was mich angetrieben hat, war ein Gefühl des Verlustes. Ich hatte das Gefühl, dass das Poetische in all dem Lärm, dem Getriebensein, der um sich greifenden Digitalisierung, der Beschleunigung der Welt und der Effizienz als Maßstab aller Dinge, erstickt und untergeht.

Was aber ist das „Poetische“? Damit beginnt es ja schon: jede Definition ist unpoetisch. Das Poetische, das ist: das, was einfach entsteht. Das Leise. Das Sachte. Das Schöne. Das zum Innehalten einladende. Das Innehalten selbst ist poetisch! Das bewußte Atmen ist poetisch. Die Wahrnehmung des Atmens selbst ist es auch. Ebenso das einfach nur Dasitzen. Das absichtslose Schauen auf den Horizont. Sich selbst als Teil eines Geschehens begreifen ist poetisch, einzugreifen, zu manipulieren ist es sicherlich nicht.

Poesie ist also mehr als Gedichte. Und warum „radikal“? Mir selbst erschien der Begriff „radikal“ schon oft als zu radikal. Erinnert er doch an etwas rabiates, gewalttätiges, an etwas Jähes. Radikal aber meint hier ganz urspünglich: zur Wurzel hin ausgerichtet. Zur Quelle gehend. An den Ursprung. Und zur Wahrnehmung von Wurzel, Quelle und Ursprung einladend.

Beim Durchsehen der Beiträge im Archiv sind mir einige begegnet, die sich geeignet hätten als Geburtstagsbeitrag. Beim nachfolgenden aber bin ich hängengeblieben. Er verbindet das Poetische mit dem, was uns alle aktuell beschäftigt: die Einschränkungen im Rahmen der Coronamaßnahmen.
Das Zitat aus „Hochzeit des Lichts“ ist zum einen ein Lob der Schönheit. Und zum anderen erinnert es uns daran, dass die philosophischen Wurzeln unseres europäischen Lebensgefühls sich gegen das grenzenlos Machbare wenden. Die Vernunft hat ihre Grenze. Und der Mensch ist aufgerufen, die Balance zu finden zwischen seiner Fähigkeit, in das Netzwerk der Natur einzugreifen einerseits und seiner Unfähigkeit, die Folgen seines Tuns zu überblicken, andererseits. Nemesis, die Göttin des rechten Maßes ist ein so wundervolles Mitglied des griechischen Pantheons. Die aktuellen Herrscher scheinen vergessen zu haben, dass es sie gibt. Auch im Bundesgesundheitsministerium, der WHO und den Chefetagen der Impfindustrie scheint Nemesis neben den Götzen der Machbarkeit und des Profits keinen Platz zu haben.
Und es wäre zumindest mir ein Vergnügen, Albert Camus im Gespräch z.B. mit Bill Gates zu erleben.

Hier nun der Beitrag vom August 2019:

Wir haben die Schönheit verbannt, die Griechen griffen für sie zu den Waffen. Ein erster, doch grundlegender Unterschied. Für das griechische Denken war stets die Begrenzungsidee vorherrschend. Es hat nichts auf die Spitze getrieben, weder das Heilige, noch die Vernunft, weil es nie etwas verleugnete, weder das Heilige, noch die Vernunft. Es hat alles einbezogen, den Schatten durch das Licht ins Gleichgewicht bringend. Unser Europa hingegen, das sich berufen fühlt, alles zu erobern, ist die Tochter der Unmäßigkeit. Es leugnet die Schönheit, wie es alles leugnet, was es nicht anbetet. Und es betet, sei es auch auf verschiedene Weise, ein Einziges an: den zukünftigen Sieg der Vernunft. In seinem Wahn versetzt es die ewigen Grenzen, und in diesem Augenblick stürzen sich düstere Erinnyen darauf und zerreißen es. Nemesis wacht, die Göttin des Maßes, nicht der Rache. Alle, die die Grenzen überschreiten, werden von ihr unerbittlich gestraft.

Mit Erstaunen liest man in diesem Essay von Albert Camus, Helenas Exil, denn er stammt aus dem Jahr 1948. An Aktualität hat er nicht verloren. Es ist faszinierend, zeitlose Texte zu lesen, weil sie uns Augen öffnen können, die im Lärm und Gebrüll der Zeitgenossenschaft verschlossen blieben. Wir leben in einer maßlosen Zeit, fröhnen einer Hybris des Machbaren und Verfügbaren, die jede menschliche Begrenztheit leugnet. Und wir steuern damit auf den Untergang zu. Albert Camus (1913-1960), Schriftsteller, Philosoph und Literaturnobelpreisträger, vermag uns mit einigen wenigen Sätzen unsere tiefen geistesgeschichtlichen Wurzeln und unseren Verrat daran aufzuzeigen.

Albert Camus, Helenas Rache; in: ders., Hochzeit des Lichts, Arche Verlag, S. 119-126

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