Auch das Kalenderblatt des Monats Juni besticht durch seine formale Gestaltung. Vor einem Hintergrund, der wie ein wolkenbedeckter Himmel wirkt, stechen mittig das Wort HEILIG und die bekannte rote Tuschelinie hervor. Diese ist das einzige farbige Element des Blatts. Wie ein Ausrufezeichen steht es senkrecht in der Mitte des Blatts, und bleibt doch in seiner verfließenden Form weich und organisch, in Verbindung mit seiner Umgebung.
Nun ist es an der Zeit zu wissen, dass alles was du tust, heilig ist.
Diese Worte verstören. Jedem von uns fallen sicherlich sofort eigene Handlungen ein, die wir alles andere denn als heilig empfinden. Handlungen, die banal sind, auch solche, die wir vor anderen, vielleicht sogar vor uns selbst verstecken. Heilig? Sicherlich nicht!

Was aber meint der persische Dichter Hafis mit diesen seltsamen Worten? Er, den Goethe bewunderte und dessen Verse Goethe zu seinem west-östlichen Diwan inspirierten?
Sie erinnern an Novalis Worte Wohin wir gehen? Immer nach Hause!. Ganz gleich also, was wir tun, alles ist ein Schritt in die richtige Richtung. Jede Handlung ist Teil eines großen Ganzen, dem wir angehören. Und wenn wir nicht so gemeint wären, wie wir sind, dann wären wir nicht da. Dann hätte die Quelle, aus der wir kommen, uns nicht so hervorgebracht, wie wir sind.
Hier also spannt sich eine Brücke zwischen der persischen Mystik des 14. und der deutschen Romantik des späten 18. Jahrhunderts. Die Worte rühren an ein Geheimnis, das letztlich jenseits der Worte wohnt. Es sind Worte des Trostes. Und wie jene von Novalis zeigen uns diejenigen von Hafis eine Tür, durch die wir gehen können, um in eine andere, zunächst paradox erscheinende Welt eintreten zu können. Eine, in welcher sich die vordergründigen Widersprüche und Polaritäten auflösen. Und die sicherlich dem Paradies näher ist als die Welt unserer Alltagsrealität.
Hafis Wort nimmt uns aber auch in die Verantwortung. Wenn wir es mitnehmen in unser tägliches Handeln, dann entstehen Gewahrsein und innere Würde, die uns wegführen von Unachtsamkeit und seelischer Abspaltung.
Nun bekommen auch die Wolken auf dem Blatt einen Sinn. Um zum Licht vorzudringen, um „nach Hause zu gehen“, müssen wir die Nebelschicht der vermeintlichen Realität und unseres Getrenntseins von uns selbst durchdringen. So gesehen zeigt sich die rote senkrechte Linie als Spalt, der uns diesen Übergang eröffnet.
Wer hätte nicht Lust, durch diese Tür zu gehen?
Kalligrafie: Hans Neidhardt