Der rote Tuschestrich teilt diesmal, schräg von unten nach rechts oben verlaufend, das Bild in zwei ungleiche Hälften. In der linken Hälfte sehen wir ein konfettiartiges Sammelsurium von herbstfarbenen, meist rechteckigen Formen. Herbstlaub? Oder sollen sie die Armee von Anforderungen symbolisieren, denen wir uns im Alltag oft ausgesetzt fühlen?

Wie Die Herbstsonne Leuchten
Und sich wärmen
an den Forderungen des Lebens.
Welch Aufgabe!
Dieser Aphorismus des weitgehend unbekannten zeitgenössischen Dichters Matthias Hermann konfrontiert uns mit einem Paradoxon. Herbst, das ist die Zeit des zur Ruhe kommens, der abnehmenden Energie und des Rückzugs. Welch Wohltat, wenn die kühle Jahreszeit uns einen sonnigen warmen Tag schenkt und wir an einem geschützten Fleck die Herbstsonne genießen und uns wärmen dürfen!
Hermann aber macht uns nicht zum Empfänger der Sonne, er macht uns zum Subjekt, zur Sonne selbst. Wir sollen nicht warm beschienen werden, sondern selbst leuchten. Und uns nicht etwa an den Sonnenstrahlen wärmen, sondern an den Forderungen des Lebens! „Welch Aufgabe!“ steht da am Schluß. Wie wahr! Und mancher mag denken: das was du da schreibst, ist keine Aufgabe, sondern eine Dreistigkeit! Ich will meine Ruhe haben, am Ofen sitzen, warme Suppe essen und vom kuscheligen Bett aus die Herbststürme da draußen erahnen.
Selbst eine Sonne sein und die Forderungen des Lebens als Energiespender zu nehmen, diese Aufgabe stellt sich vielen von uns in den aktuellen Zeiten. Virendaueralarm, gesellschaftlicher Konformitätsdruck, düstere Zukunftsprognosen, das alles stellt uns vor Herausforderungen, die den Kriegsgenerationen und jenen von uns, die in totalitären Systemen leben mußten, vertraut sind. Für die die meisten von uns aber sind sie neu und ungewohnt und bringen uns oft genug an den Rand unserer seelischen Möglichkeiten.
Aus dieser Perspektive verliert der Aphorismus von Matthias Hermann seinen paradoxen Charakter und wird zu einer realitätsbezogenen Wegweisung in der Jetztzeit. Versuchen wir also, die Sonne in uns zu erwecken und die zunehmenden Forderungen des Lebens als Anregung zu Wachstum und Entwicklung zu nehmen.
Kalligrafie: Hans Neidhardt
Worte: Lothar Eder