Was Olga wohl dazu sagen würde, habe ich in den letzten Tagen oft gedacht. Das mag merkwürdig klingen, denn Olga ist eine Romanfigur, keine reale Person. Aber die Romanfigur Olga, eine großartige und wundervolle Figur, entworfen von Bernhard Schlink, verkörpert Eigenschaften, die ich in dieser Welt gerade in diesen Tagen sehnlichst vermisse: Bescheidenheit, Liebe, Hingabe, Freundlichkeit, Friedenswille und ein untrügliches Gespür für das rechte Maß und Ziel.

Vor fast 6 Jahren habe ich begonnen, hier in der Radikalen Poesie Romane vorzustellen, die sich mit der Geschichte der Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten als Folge des verlorenen Krieges 1945 beschäftigen. Das Anliegen damals war zum einen, diese Geschichte(n) nicht vollständig in Vergessenheit geraten zu lassen. Denn die damaligen Traumatisierungen schlagen über die Generationen hinweg bis heute bei vielen Menschen durch.

Jenseits aller Grausamkeit, jenseits aller historischen und moralischen Aspekte fand ich in den drei Romanen, die ich las und vorstellen wollte, Erzählweisen und poetische Momente der Vertreibungsgeschichte, die mich angerührt haben und die ich versöhnlich und tröstend, ja vielleicht sogar heilsam fand. Keiner der drei Romane bezieht sich direkt auf das Thema „Flucht und Vertreibung“. Vielmehr scheint das Thema auf als Teil der persönlichen Geschichte der Protagonistinnen. Und während ich dies schreibe, wird mir erst bewusst, dass die Hauptfiguren sämtliche  Frauen sind. Gerade in dieser eben angesprochenen Indirektheit werden die seelischen Folgen des damals Geschehenen deutlicher als wenn man jede Geschichte im Breitwandformat auserzählte.

Die ersten beiden Rezensionen – Trilogie der Vertreibung – „Tagesanbruch“ von Hans-Ulrich Treichel und Trilogie der Vertreibung II – „Altes Land“ von Dörte Hansen erschienen kurz nacheinander im September 2018 . Eigentlich sollte die Besprechung von „Olga“ kurz darauf erfolgen. Eigentlich.

Heute glaube ich zu verstehen, warum es so lange gedauert hat. Denn nie in den vergangenen Jahren habe ich mir eine Figur wie Olga in meine Nähe gewünscht wie in diesen Tagen. Auch wenn sie „nur“ eine ausgedachte Figur eines Schriftstellers ist. Ich bin überzeugt, dass wir uns nur „ausdenken“ können, was in unserer Seele bereits vorhanden ist. Und was in der einzelnen Seele vorhanden ist, schöpfen wir aus der großen Seele, ob wir es nun „kollektives Bewußtsein“ nennen wie C.G. Jung oder einen anderen Namen dafür verwenden.

Wir leben in Zeiten, von denen ich persönlich mir nicht hätte vorstellen können, dass sie sich in diesem Land (wieder) ereignen. Mein Vater war als 19jähriger mit der Waffe in der Hand auf dem Weg nach Russland. Für mich war das ein Grund, den Dienst mit der Waffe zu verweigern. Ich finde, wenn wir Deutsche nach Russland gehen, sollten wir die Panzer daheim lassen (Krieg und Frieden – ein paar (un)poetische Gedanken). Die Kriegstreiber, die Panzerkettenrassler, die Schreimäuler und Geiferer, ja, man muss sagen, die Dummköpfe haben Konjunktur und sie scheinen endgültig die Vorherrschaft übernommen zu haben. In den Redaktionen der Zeitungen, der Rundfunksender, in den Schaltzentralen ebenso wie auf den Regierungsbänken. Wie zu den schlimmsten Zeiten unserer Geschichte wird der Ruf nach mehr Waffen in die Kinderstuben hineingetragen. Der Kanzler selbst diskreditiert Mitbürger, die sich Friedensverhandlungen mit Russland wünschen, öffentlich als „gefallene Engel aus der Hölle“. Hat er den Verstand verloren? Ich finde, auf diese Frage gibt es nur eine Antwort.

Olga, setz dich bitte neben mich und sprich mit mir. Ich bin mir sicher, dass du mich verstehst. Sprich das, was du über den Krieg denkst und über die deutsche Großtuerei, die sich gerade in den letzten Jahren wieder aufs Neue zeigt. Mir kommt es so vor, als hätten wir Deutsche so einen gnadenlosen Absolutismus in der Volksseele, der losmarschiert, sich festbeißt und nicht loslässt, auch wenn das jeweilige Unternehmen längst widerlegt oder zum Scheitern verurteilt ist.

Die Themen und Anlässe wechseln, die Haltung bleibt. Einmal wollen wir, dass alle Welt am deutschen Wesen genesen möge. Dann wollen wir die halbe Welt erorbern. Einige Zeit später  öffnen wir alle Grenzen und alle, die hereinwollen, dürfen herein. Und bleiben. Wer etwas dagegen hat, wird beschimpft und ausgegrenzt. Kurz darauf erklären wir ein Virus, an dem letztlich weniger als ein Promille der Bevölkerung stirbt, zu einem absoluten Killervirus und wer anderer Meinung ist und eine fragwürdige Impfung verweigert, erfährt Hetze von Staat und Medien, wird mit Berufsverbot bedroht und soll nichts mehr zu essen kriegen. Dann gibt es einen neuen Feind, der CO2 heißt und mit allen Mitteln eliminiert werden muss. Dafür wird alles geopfert: die Wirtschaft und der gesellschaftliche Zusammenhalt. Die Zeit der Vernunft ist endgültig vorbei. Es zählt nicht, dass China an einem Tag soviel CO2 emittiert, wie ein „klimaneutrales“ Deutschland in 30 Jahren einsparen kann. Einwände? Nicht zugelassen. Bzw.: „Leugnung“. Ende der Debatte. Windräder müssen rotieren für den Sieg. Ein Begriff aus der Religion. Muss dieses Volk, mein Volk, wirklich immer etwas besiegen, in der Illusion, dann in Frieden sein zu können?

Um die Menschen aus ihrer Mitte zu locken, brauchen Regierungen Feinde. Sie wollen, dass wir Angst haben, dass wir hassen, dass wir uns hinter ihnen versammeln.
Und wenn sie keinen echten Feind haben, dann erfinden sie einen, um uns in ihre Arme zu treiben.
Thich Nhat Hanh


Olga was sagst du dazu? Setz dich bitte neben mich ins Auto und schau dir das Plakat zur Europawahl der Partei an, die sich „liberal“ nennt. Schau mal Olga siehst du das? Da, diese Augenpartie in Großformat, die dich aggressiv mit ihrem Blick fast durchbohrt? Streitbar in Europa steht da. Und dann der Namen der Dame. Sie wirbt für mehr Waffen und dann für noch mehr Waffen, um damit auf Russen zu schießen. Strack-Zimmermann heißt die Dame, Olga, sie wiegelt auf und will uns in den Krieg schicken. Aber wer sie eine Kriegshetzerin nennt, den verklagt sie.


Ich sehe Olga neben mir im Auto sitzen, sie hört ja nicht mehr, aber sie sieht alles. Mit ihrem milden, gleichmütigen Blick sieht sie alles. Und schweigt. Scheinbar. Ich weiß, dass sie meine Stimmungslage teilt.

Die Menschheit fängt mit den Menschen an, mit dir und mir.
Unser Glück war ein holpriges Glück, aber es war ein wirkliches Glück.

Es ist Kaiserzeit in Deutschland, als Olga und Herbert sich treffen. Sie, die junge Lehrerin im Pommerschen Dorf und er der Sohn des reichsten Mannes am Ort. Zwei Welten. Hier Olga, die in Schlesien früh beide Eltern verloren hat, die bei der Oma aufwuchs, die sie nicht mochte und die sich durchgekämpft hat zu einer Stelle als Dorfschullehrerin. Und da Herbert, der Großbürgerssohn, behütet und privilegiert durch Geburt.

Sie verlieben sich ineinander, Herberts Eltern sind dagegen. Aber das hindert ihre Liebe nicht. Es hindert sie Herberts Drängen nach Großem. Der Kaiser begeistert ihn, das aufstrebende Reich, die Kolonien, das Erobern, das Fremde, das Heldische.

Später, als Herbert schon nicht mehr heimgekommen ist von seiner Arktisexpedition, schreibt sie ihren ersten Brief an ihn, dem Dutzende weitere folgten. Sie ist verzweifelt über den Verlust ihres Geliebten, den sie früh ahnt. Und dennoch ist sie voller Liebe für ihn. Und dieser Liebe wohnt eine Treue inne, die den Leser bezaubert. Bernhard Schlink erzählt dies in Teilen als Briefroman, leicht und sicher in der Sprache und doch mit Tiefe und Macht.

Olga ist in gewisser Weise der gute Archetyp des Weiblichen. Sie liebt und hegt ein, sie liebt das Lebendige dort wo sie ist, sie pflegt es, sie ist voller Hingabe und Fürsorge. Nichts in und an ihr will hoch hinaus. Es genügt ihr eine Liebe und ein Heim und eine Arbeit und ein Garten. „Die Menschheit fängt mit den Menschen an, mit Dir und mir“, schreibt sie in ihrem ersten Brief. Die Umstände und die Gegensätze haben aus ihrer beider Begegnungen ein „holpriges Glück“ gemacht, „aber ein wirkliches Glück“.

Der erste Brief stammt aus dem Jahr 1913, der letzte von 1971. Olga fleht Herbert an, sie hadert und streitet mit ihm, sie drückt ihn an ihr Herz und sie schreibt ihm rührend von ihrem Leben. Auch dann noch, als keine Hoffnung mehr besteht. Sie nimmt keinen anderen Mann. Als der zweite Krieg zu Ende geht und sie mit den anderen Volksdeutschen vertrieben wird, hört sie schon nicht mehr. Und lange vor der Vertreibung aus der Heimat war sie schon heimatvertrieben. Aus der Heimat mit den Eltern. Und aus der Heimat mit Herbert.

Olga Rinke, „Fräulein Rinke“, kommt nach Heidelberg und verdingt ihr kleines Leben durch Näharbeiten. So auch im Hause des Icherzählers, der ihr als Kind erstmals begegnet. Er bleibt Olga auch als Erwachsener verbunden, besucht sie und macht Ausflüge mit ihr. Es ist die Zeit der Studentenbewegung Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre.

Ihr seid für die Moral. ich weiß.
Wer moralisiert, will es groß haben und zugleich gemütlich.
Aber keiner ist so groß, wie er moralisiert, und die Moral ist nicht gemütlich.

In der Kritik und dem politischen Moralisieren der Studentenbewegung spiegelt sich für Olga die deutsche Großtuerei wieder. Es ist ihr alles zu groß. So wie der Kaiser und das Reich und die Deutschtümelei ihr zu groß waren, so sind ihr später die Urteile, die Begriffe und Zuschreibungen zu groß. Es gefällt ihr nicht, dass aus einem hässlichen Kolonialkrieg gegen die Herero ein „Völkermord“ gemacht wird. „Ihr seid für die Moral, ich weiß“, spricht sie zum Erzähler und fährt fort: „Wer moralisiert, will es groß haben und zugleich gemütlich. Aber keiner ist so groß, wie er moralisiert, und die Moral ist nicht gemütlich“.

Eines Tages wird ein Sprengstoffanschlag auf das Bismarckdenkmal in Heidelberg verübt. Es bleibt unbeschädigt, aber eine Passantin wird lebensgefährlich verletzt. Die Passantin ist Olga. Bernhard Schlink benennt sie nicht als die Attentäterin, aber er legt es gleichsam schwebend nahe – indem er Bismarck aus Olgas Sicht als eine der Figuren beschreibt, die ihr Leben und ihre Liebe zerstört haben. Ohne deutsche Großtuerei kein Herbert, der die ganze Welt erobern will. Sondern die Möglichkeit für eine Liebe, die gelebt werden kann. Das ist Olgas Logik. In dieser Logik gibt es nur Frieden, inneren wie äußeren. In Olgas Logik gibt es keinen Krieg.

Eine ganze Zeit nach Olgas Tod macht der Icherzähler sich auf die Suche nach Olgas Spuren. Auf einem Flohmarkt entdeckt er eine Ansichtskarte der damaligen Arktisexpedition, die Spur führt ihn schließlich zu einem Antiquariat in Tromsö, dort erwirbt er das ganze Konvolut von Briefen.

So bleibt Olga in seinem Leben und begleitet ihn in seinen Gedanken. Da heißt es „Und sie kommt mir in den Sinn, wenn sich etwas ereignet, von dem ich weiß, dass sie es zu groß geraten fände. Sie fand, dass wir Studenten und Studentinnen uns mit dem Moralisieren überhoben – heute würde sie über die Medien spotten, die das Recherchieren verlernt und durch moralisches Skandalisieren ersetzt haben. Sie würde das Bundeskanzleramt und die Bundestagsgebäude und das Holocaustmahnmal zu groß finden. Sie würde sich über die Wiedervereinigung freuen, aber das seitdem gewachsene Europa zu groß finden und auch die globalisierte Welt“.

Und genau deshalb stelle ich mir so gerne Olga in meinem Leben vor. Bernhard Schlink möge es mir verzeihen, dass ich sie so einfach für mich reklamiere. OIga, die alte weise Frau, die alles erduldet und trotz ihres Leids in der Liebe bleibt. Wie Mutter Erde, wie die Göttin Gaia.
Aber auch wie Nemesis, die – so Albert Camus – nicht die Göttin der Rache, sondern diejenige des rechten Maßes ist (s. auch Die Radikale Poesie wird 4!). Sie straft das Übermaß, die Hybris und die schlechten Taten. Ich gebe zu, dass ich mir das wünsche, wenn der Wald an meinem Dorf, „mein“ Wald durch den Bau von Windrädern zerstört werden soll. Oder wenn ich an Großplakaten mit Augenpartien von Menschen, die Krieg gegen Russland führen wollen, vorbeifahre. Und ich wünsche mir, dass Olga dann ihren Satz sagt – „keiner ist so groß, wie er moralisiert“.

Wenn ich aber länger bei meiner Seele verweile, dann entdecke ich hinter dem Wunsch nach Strafe eine tiefe Sehnsucht nach einer Wächterin für das rechte Maß, die uns liebevoller zu uns und anderen werden, die uns verstehen lässt, dass wir Menschen begrenzt sind, dass das Leben und die Natur größer sind als wir und dass wir die Kinder von Mutter Erde sind und nicht ihre Vormunde und Befehlshaber. Dass es genügt, ein Leben zu führen, dort wo man ist und mit denen, die da sind. Dass die Liebe einen findet und einem Aufgaben gibt. Und dass es besser ist, den eigenen Garten zu bestellen als mit dem Schwert in der Hand in die Fremde zu ziehen.

Und dann sehe ich Olga neben mir sitzen, z.B. im Auto, und ich spüre diese bemerkenswerte Mischung aus klarer Urteilskraft und liebevoller Sanftmut, die sie ausstrahlt und ich bin froh, dass es dich gibt, Olga.

Worte: Lothar Eder © 2024
Bilder: Fotografien des Buchcovers („A dark pool“ von Laura Knight) und Ausschnitte von einem Wahlplakat als bearbeitetes Bildschirmfoto

Ein Gedanke zu “Olga oder: von der deutschen Großtuerei (Trilogie der Vertreibung III)

  1. Danke für diesen herzensklugen Beitrag zur Wahrheit, zur Herzenswahrheit, der mir so sehr aus der Seele spricht! Ich freue mich auf Olga…

    Jonny

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