Unter dem riesigen Ficus, am Vorplatz an der Plaza Glorietta, sitzt still ein alter Mann. Er tut nichts. Er sitzt einfach nur da. Neben ihm ein Eimer, vielleicht hat er damit irgendetwas gearbeitet, Blätter aufgesammelt oder was immer. Er sitzt da, die Hände auf dem Rundmäuerchen um den Baum aufgestützt. So kann man dasitzen. Und nichts tun. Einfach so. So geht das (denkt einer in mir).
Später:
Am Straßenrand steht Luis und hält den Daumen raus. Ich halte an, um ihn mitzunehmen und da weiß ich noch garnicht, dass er Luis heißt. Das erfahre ich erst, als ich ihn in Arecida an der Hauptstraße nach Norden absetze und ihn zum Abschied nach seinem Namen frage.
Aus irgendeiner Gewohnheit heraus nehme ich meist keine Anhalter mit. Ich mag es, beim Fahren für mich zu sein und die Schwingungen fremder Menschen auf engem Raum sind mir meist zuviel. Als ich Luis sehe, halte ich gleich an. Warum, weiß ich nicht. Manche Dinge müssen einfach so sein wie sie sind. Er spricht mich in mehreren Sprachen an, und als er mich auf Spanisch fragt, ob ich Deutsch spreche, sage ich ja. Ob ich nach Norden führe. Ich bejahe, allerdings fahre ich nur bis Tijarafe und biege dann in die Höhe ab. Ja, das sei in Ordnung. Luis quetscht seinen Rucksack auf die Rückbank. Auf meine Frage, was er denn im Norden wolle, erzählt er seine Geschichte. Seit letztem Jahr im Juni ist er unterwegs (jetzt haben wir März). Zu Fuß! Aus Berlin sei er. Und 19. Und habe letztes Jahr Abitur gemacht. Erst sei er Richtung Osteuropa gegangen, und als es zu kalt wurde, in den Süden. Er erzählt von Portugals Küste, die er abgelaufen sei. Und dann sei er auf die Kanaren übergesetzt (ich frage ihn nicht, ob er das auch zu Fuß erledigt habe, und nehme an, daß er das Schiff genommen hat). Die Inseln seien so unterschiedlich. Bis auf El Hierro sei er jetzt auf allen gewesen. Auf La Palma schon seit Wochen. Er sei einmal um die ganze Insel gelaufen, an der Küste entlang. Das ringt mir Respekt ab, denn La Palmas Küste ist eine Steilküste und das heißt oft, vierhundert oder mehr Höhenmeter abzusteigen und dann die gleiche Strecke wieder nach oben zu gehen, und dies mehr als einmal, weil über die Schluchten (Barrancos) keine Brücken führen (die Fahrstraßen führen weiter oben entlang). Das kann bedeuten, dass man einen Tag unterwegs, aber nur acht Kilometer weit gekommen ist. Woher ich käme? Ich sage es ihm. Und dass ich 1977 meine Heimat verlassen habe, da war ich so alt wie er. Und denke mir, wie weit die heutzutage sind. Wie weit die sich hinauswagen. Welch ein Mut!
Luis, dessen Namen ich zu dem Zeitpunkt noch nicht kenne, ist ein froher Mensch. Beim Gehen entstehe ein eigener Rhythmus, man erfahre Dinge über sich selbst, die man vorher nicht für möglich gehalten habe. Ich merke, dass ich Luis gerne zuhöre. Er sei froh, zu erfahren, wie wenig man zum Leben brauche, um zufrieden zu sein. Wo er denn schlafe? Er habe ein Zelt dabei, aber meist schlafe er einfach so im Freien. Dann gibt es eine Weile, in der wir nicht sprechen, nur die Landschaft zieht vorbei. Mir fällt auf, dass dieses Schweigen wie selbstverständlich ist, es hat nichts Unangenehmes. Mit Luis ist gut fahren. Bestimmt ist mit Luis auch gut gehen.
Wenig später sind wir in Arecida, einem Ortsteil von Tijarafe. Wie lange er denn noch unterwegs sein wolle? Solange das Geld reiche. Er denke mal, bis nächstes Jahr im Sommer. Ich verabschiede ihn herzlich und wünsche ihm einen guten Weg.
Später wird mir klar, dass der alte Mann am Morgen und der junge in der Mittagsstunde zusammengehören. Sie sind zwei Stufen eines Menschseins, eines Mannseins, denen ich binnen weniger Stunden in Reinform begegnet bin. Der junge, frohe Mann, der mutig seinen Weg geht und im Gehen sich selbst und die Welt entdeckt (wie wohltuend, einmal auf ein Exemplar seiner Altersstufe zu treffen, das nicht fortwährend auf seinem Mobiltelefon herumwischt). Und der alte Mann, der in stiller zufriedener Ruhe einfach nur dasitzt. Bewegung und Ruhe. Jugend und Alter. Werden und Verweilen.
Schöner Text, weckte einige Erinnerungen.
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